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Ezra kniete sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter und versuchte mit der anderen, das Stück seiner kostbaren Schriftrolle zu entfernen. Doch wie eine Schlange, die sich in ihre Höhle zurückzog, verschwand das Fitzelchen in ihrem Mund. Er sah, wie ihre Kehle zuckte, als würde das Stück Schriftrolle sich noch weiter zurückziehen. Oder hatte er sich das alles nur eingebildet?

Kimberly keuchte und würgte. Ihr ganzer Körper wand sich in Krämpfen.

Ezra wusste nicht, was er tun sollte. Er sagte: »Halt durch«, und rannte aus dem Arbeitszimmer, durch sein Schlafzimmer und riss die Tür zum Flur auf. »Gertrude!«, rief er. »Gertrude!«

»Ja?« Es klang, als sei sie vier oder fünf Räume entfernt.

»Ruf den Notarzt für Kimberly. Wir brauchen einen Krankenwagen!«

Als er wieder an ihrer Seite war, sah sie aus, als sei sie gerade ins Koma gefallen. Ihr Blick war glasig und die Atmung sehr flach. Ihr Körper im geöffneten Bademantel war seinem Blick preisgegeben. Direkt unterhalb ihrer Brüste entdeckte er schwarze und blaue Flecken, als sei sie grob misshandelt worden. Er zog den Mantel zu und strich ihr über die Stirn. »Ruh dich einfach aus«, sagte er. »Alles wird wieder gut.« Ihre Haut war schweißnass, aber fiebrig heiß. Ezra fragte sich nicht nur, ob sie wieder gesund werden würde, sondern ob sie überhaupt so lange überleben würde, bis der Krankenwagen käme.

Gertrude stürzte ins Zimmer. »Gott im Himmel«, flüsterte sie, »Ich habe den Notarzt gerufen«, sagte sie zu Ezra.

Zehn Minuten später waren die Sanitäter da, hoben Kimberly auf eine Trage und rollten sie eilig hinaus zum Fahrstuhl. Ezra rief im Büro seines Vaters an, von wo aus die Sekretärin den Anruf nach Dallas weiterleitete. Sam saß gerade im Konferenzsaal und handelte irgendeinen Vertrag aus. Als Ezra ihm mitteilte, dass Kimberly erkrankt und ins Krankenhaus gebracht worden sei, schwieg er einen Moment. Anschließend bombardierte er Ezra mit Fragen. Welches Krankenhaus? Warum hatte er nicht Sams Hausarzt gerufen? Was stimmte nicht mit ihr? Wer hatte die Diagnose gestellt?

Ezra beantwortete so viele Fragen wie möglich, aber da er selbst nicht viel wusste, konnte er spüren, wie die Enttäuschung seines Vaters mit jeder Minute wuchs.

»Ich sehe zu, dass ich hier fertig werde«, erklärte Sam, »und komme so schnell wie möglich zurück.«

»Gibt es irgendetwas, das ich in der Zwischenzeit für dich tun kann?«

»Ja! Ich möchte, dass du ins Krankenhaus fährst und dafür sorgst, dass sie verdammt nochmal alles bekommt, was sie braucht.«

Ezra legte auf und hatte das Gefühl, wieder einmal irgendetwas falsch gemacht zu haben. Sein Vater vermittelte ihm ständig dieses Gefühl.

Er ging zurück in sein Zimmer. Er wagte kaum auf die leere Stelle auf seinem Zeichentisch zu blicken, wo das Fragment der Schriftrolle gelegen hatte. Er nahm seinen Mantel und fuhr nach unten. Vom Pförtner, Alfred, ließ er sich ein Taxi rufen, und während sie warteten, schüttelte Alfred den Kopf und sagte: »Tut mir furchtbar leid, diese Sache.«

»Ja, ist wirklich schrecklich.«

»Sie sieht immer so hübsch aus, und diese Partys, die sie immer schmeißt, bringen uns in die Zeitung.«

Was genau ihre Absicht ist, dachte Ezra.

»Ach ja, falls Sie das zurückhaben wollen«, sagte der Pförtner und zog ein paar Papiere aus seiner Uniformtasche, »Mrs Metzger will sie immer gerne wiederhaben.«

Ezra blickte auf das geprägte Briefpapier und sah, dass es sich um eine Liste der geladenen Gäste handelte, mit kleinen Häkchen hinter fast allen Namen.

»Sie bat mich, die Gäste bei ihrer Ankunft zu überprüfen«, sagte der Pförtner, »und ihr die Liste nach der Party zurückzugeben. Für ihre Unterlagen, nehme ich an.«

»Ich werde es ihr geben«, sagte Ezra, während das Taxi in die Auffahrt einbog und er hinten einstieg.

»Doctors Hospital«, sagte er, und der Wagen fuhr an.

Während er auf dem Rücksitz saß und in den späten grauen Nachmittag starrte, dachte er über alles nach, was gerade geschehen war. Kimberlys Delirium, der Schaden an der Schriftrolle. Zu seiner geheimen Schande wusste er genau, was ihn mehr bekümmerte. Kimberly würde geheilt werden, von was immer sie plagte, aber die Schriftrolle? Die würde nie wieder restauriert und jener Teil des Textes nie wiederhergestellt werden können. Er hatte immer das Gefühl gehabt, die Schriftrolle sei ihm anvertraut worden, möglicherweise von einer höheren Macht. Seine Aufgabe, seine Pflicht war es gewesen, sie zu schützen. Doch er hatte wieder einmal versagt.

Das Taxi hielt vor einer Ampel in der First Avenue, und Ezra blickte auf den Ausdruck der Gästeliste in seiner Hand. Manche der Namen – des Bürgermeisters, einiger Stadträte, alter Freunde der Familie – erkannte er. Auf den anderen Seiten standen reihenweise Namen, die wahrscheinlich nur Kimberly etwas sagten. Er blätterte bis zum Ende der Liste, und dort entdeckte er noch ein paar Namen in lavendelfarbener Tinte hingekritzelt. Vermutlich Einladungen in letzter Minute, die sie selbst handschriftlich hinzugefügt hatte.

Da war ein Mr Donlan, Mr und Mrs Lamphere und am Ende, mit einem großen Fragezeichen daneben, ein Mr Arius.

Hm. Das war ein seltsamer Name. Und was hatte das Fragezeichen zu bedeuten?

Vermutlich war sie sich nicht sicher gewesen, ob er kommen würde.

In diesem Moment fuhr das Taxi weiter, und er dachte wieder an jenen Abend. Erinnerte sich an eine weitere Merkwürdigkeit.

Dieser große blonde Mann, mit dem er im Korridor zusammengestoßen war. Seinen Namen kannte er zwar nicht, aber er war aus der Richtung von Kimberlys Schlafzimmer gekommen.

Er dachte an die Prellungen, die er auf ihrem Körper gesehen hatte. Male, von denen er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass sein Vater dafür verantwortlich sein sollte.

Er dachte an die bizarre Erscheinung des blonden Mannes.

Und dann dachte er an den Namen. Er schaute erneut auf die Liste und auf das dazugehörige Fragezeichen. War es dort, weil sie nicht sicher war, ob er kommen würde? Oder weil sie nicht sicher war, wie der Name buchstabiert wurde?

Er sprach ihn laut aus. »Arius«, sagte er. Der Taxifahrer drehte sich um.

»Nichts«, sagte Ezra, dann murmelte er den Namen erneut, leiser diesmal. »Arius.«

Seine Gedanken flogen zu dem Teil der Schriftrolle, an der er gerade gearbeitet hatte. Eine Liste mit Namen. Gadreel, Tamuel, Penemue … und als letzter … Ereus.

Das war seine Umsetzung der Laute gewesen, aber konnte man sie nicht genauso gut – oder sogar noch besser – mit Arius übersetzen?

Plötzlich glaubte er zu wissen, was Kimberly heimgesucht hatte. Und zum ersten Mal glaubte er, dass sie es womöglich doch nicht überleben würde.

Wenn das stimmte – würde dann irgendjemand überleben?

29. Kapitel

Carters erste Station an diesem Tag war die Hauptbibliothek gewesen, und was er dort entdeckt hatte, war schon übel genug.

Jetzt saß er im Fachbereichsbüro, und es wurde noch schlimmer. Die Sekretärin reichte ihm einen Brief der Rechtsanwaltskanzlei Grundig und Gaines, mit dem er darüber informiert wurde, dass Mrs Suzanne Mitchell, die Witwe des kürzlich verstorbenen Bill Mitchell, die New York University wegen fahrlässiger Tötung verklagt habe und dass er, Carter Cox, als Verantwortlicher des Labors, in dem der tödliche Unfall sich zugetragen hatte, seines Amtes zu entheben sei.

»Der Vorsitzende hat ebenfalls so ein Schreiben erhalten«, sagte die Sekretärin, »und er möchte, dass Sie sich für die nächste Woche einen Termin bei ihm geben lassen.«

Was kommt denn jetzt noch?, dachte Carter. Innerhalb weniger Tage hatte er erfahren, dass er steril war, ein guter Freund war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, seine Frau hatte irgendeinen unheimlichen halluzinatorischen Albtraum erlitten, und jetzt sah es so aus, als wollte Mackie ihn zusammenstauchen, weil er Unheil über den gesamten Fachbereich gebracht hatte.