»Bones«, sagte Joe mit kaum hörbarer Stimme, »du bist Wissenschaftler. Sieh dir die Beweise an.«
»Joe, das würde ich gerne, aber es gibt keine.«
Joe hob die Hände, als wollte er sagen Sieh mich an. Sieh dir alles an, was passiert ist. Wie willst du das alles sonst erklären? »Sag nicht, du hättest dir nicht … schon deine eigenen Gedanken gemacht«, sagte er, und Carter hatte das Gefühl, sein Freund würde in ihn hineinblicken, geradewegs in seinen Kopf. Es stimmte, es gab Dinge, die Carter nicht leugnen konnte, nicht einmal vor sich selbst. Er dachte zurück an die letzte Nacht, als er in der Aeneis die Zeilen über Avernus gefunden hatte. Und an heute Morgen, als seine Nachforschungen in der Bibliothek den Rest zutage gefördert hatten.
Joe musste etwas in seinem Gesichtsausdruck gesehen haben. »Da ist etwas, das du uns sagen willst«, sagte er. »Etwas, das du erfahren hast.«
»Nein, da ist nichts«, sagte Carter und versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben.
»Das ist etwas«, beharrte Joe. »Ich habe diesen Blick vor Jahren schon einmal gesehen, auf Sizilien.«
Ezra wartete. »Je verrückter es dir vorkommt, desto lieber möchte ich es hören.«
Aber Carter hatte das Gefühl, dass er, wenn er es laut ausspräche, wenn er auch nur einen Zeh in das sumpfige Wasser steckte, nie wieder sicher aus der Sache herauskäme. Mit jeder Faser seiner Existenz sträubte er sich dagegen, diesen düsteren Morast zu betreten.
Aber hatte er das nicht schon längst getan? Hatte er unbewusst den ersten Schritt nicht bereits in dem Moment gemacht, in dem ihm der absolut seltsame Verdacht in den Sinn gekommen war? Oder zumindest, als er ihm heute Morgen in den Regalen der Forschungsbibliothek der Universität nachgegangen war?
»Es ist nur ein merkwürdiger Zufall«, sagte Carter.
»Manchmal ist es vielleicht mehr als das«, sagte Ezra. »Wir werden es nicht wissen, solange du es uns nicht sagst.«
Joes mühsames Atmen war das lauteste Geräusch im Raum.
»Es hat etwas mit dem Ort zu tun, an dem das Fossil gefunden wurde«, räumte Carter ein.
»Lago d’Averno«, sprang Joe ein, »in der Nähe von Neapel.«
»Was ist damit?«, fragte Ezra ungeduldig.
»Nun, dem römischen Dichter Vergil zufolge ist das ein sehr interessanter Ort. In der Aeneis schrieb er, dass es dort einen Zugang gäbe … einen Zugang zur Unterwelt.«
Ezra und Joe reagierten mit bestürztem Schweigen.
»Seit Tausenden von Jahren«, fuhr Carter widerstrebend fort, »gibt es in den lokalen Legenden und dem überlieferten Wissen Geschichten darüber, wie dieses Tor beschaffen ist.«
»Wie?«, krächzte Joe.
Ezra wartete einfach ab.
»Als der Erzengel Michael die rebellierenden Engel bezwang, warf er sie aus dem Himmel«, sagte Carter und konnte kaum fassen, dass er so weit ging. »Und sie stürzten in die Tiefe.«
»Laut der Schriften sechs Tage und Nächte lang«, fügte Ezra leise hinzu.
»Ja. Sie schlugen wie Meteore auf dem Boden auf und wurden von den Eingeweiden der Erde verschlungen. Genau dort, wo wir das Fossil gefunden haben.«
Joe schloss die Augen und murmelte leise ein Gebet. Nach ein paar Sekunden rührte Ezra sich auf seinem Stuhl. »Für mich hört sich das ganz und gar nicht verrückt an.« Aber er bedachte Carter mit einem taxierenden Blick. »Und wie klingt es für einen Mann der Wissenschaft?«
Doch Carter war sich nicht länger sicher. Über gar nichts. Er wühlte in seiner Aktentasche herum, holte das Kruzifix heraus, stand auf und reichte es Joe.
Ezra lächelte. Als hätte er seine Antwort erhalten.
30. Kapitel
Wenn Beth nicht versprochen hätte, mit Abbie zusammen die letzten paar Sachen für das Landhaus zu besorgen, wäre sie vermutlich direkt nach Hause gegangen, hätte die Tür abgeschlossen und ein langes heißes Bad genommen. Aber sie hasste es, ihre Freundin zu enttäuschen, und da sie planten, am kommenden Wochenende hochzufahren, war heute die letzte Gelegenheit, um die Einkäufe zu erledigen.
Sobald Raleigh aus der Tür war, fügte Beth der Gästeliste noch einen weiteren Namen hinzu, damit die Liste der Einladungen zur Weihnachtsfeier am nächsten Tag an die Druckerei geschickt werden konnte, und loggte sich aus ihrem Computer aus. Der Nachtportier, Ramon, stand bereits an der Treppe, als sie ging.
»Guten Abend, Mrs Cox«, sagte er, während er etwas Kaffee aus seiner Thermoskanne in seinen Plastikbecher der Yankees goss. »Vergessen Sie Ihren Schirm nicht.«
»Regnet es?«, fragte Beth. Sie war den ganzen Tag hinten beschäftigt gewesen und hatte keine Ahnung, was draußen in der Welt vor sich ging.
»Noch nicht, aber es heißt, da würde noch was runterkommen.«
Sie war sicher, dass sie ihren Regenschirm zu Hause gelassen hatte. »Ich fürchte, ich muss es darauf ankommen lassen.«
Draußen war es kalt und windig, und Ramon hatte wahrscheinlich recht. Die Abendluft schmeckte feucht. Sie zog den Kragen ihres Mantels bis zu den Ohren hoch und setzte sich in Richtung Bloomingdale’s in Bewegung, wo sie sich Punkt sechs mit Abbie treffen wollte. Auf den Bürgersteigen drängten sich wie immer die Menschenmassen, und mehr als einmal hatte sie das unheimliche Gefühl, jemand würde ihr folgen. Jeden Moment rechnete sie damit, ein Tippen an der Schulter zu spüren. Doch sobald sie sich umdrehte, sah sie stets nur ein Meer aus fremden Gesichtern, von denen manche gar nicht glücklich wirkten, weil Beth ihr Vorankommen störte.
»Frohe Feiertage«, brummte ein Mann, »aber jetzt machen Sie schon.«
Zwischen den Straßenlaternen über ihren Köpfen waren Kabel gespannt, an denen Rauschgoldsterne und rote Zuckerstangen aus Aluminium baumelten, und die Schaufenster waren mit Kunstschnee beflockt. Normalerweise genoss Beth all die weihnachtlichen Dekorationen, aber dieses Jahr war sie einfach nicht in der Lage, sich darauf einzulassen. Heute Abend war sie sogar so erschöpft und ausgebrannt, dass sie es gerade noch schaffte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Anruf aus Dr. Westons Praxis hatte die Sache auch nicht gerade besser gemacht. Sie solle die Dosis ihrer Eisentabletten erhöhen, hatte er gesagt und sie daran erinnert, dass sie eine sehr seltene Blutgruppe hatte, AB negativ.
»Falls Sie sich entscheiden sollten, auf alternativem Wege schwanger zu werden«, hatte der Arzt so taktvoll wie möglich erklärt, »würde ich Ihnen empfehlen, ein oder zwei Eigenblutspenden zu machen, nur für den Fall, dass es bei der Geburt gebraucht wird.«
Im Moment hatte sie das Gefühl, nicht einmal einen einzigen Tropfen entbehren zu können.
Auf den Gängen bei Bloomingdale’s war, wie zu erwarten, nahezu kein Durchkommen. Sie nahm den Fahrstuhl in die Einrichtungsabteilung und fand Abbie bereits mitten in einem angeregten Beratungsgespräch mit einer jungen eleganten Verkäuferin.
»Glauben Sie wirklich, dass diese Kissenfarbe sich nicht mit den Vorhängen beißt, die wir bereits bestellt haben? Der Stoff ist doch eher gelb als pfirsichfarben!«
»Nein«, sagte die junge Frau und schüttelte energisch den Kopf. »Die gehören alle zur selben Design-Linie und ergänzen einander.«
Abbie blickte auf und entdeckte Beth. »Glaubst du, dass dieser Stoff zu den Vorhängen im Esszimmer passt, die wir schon bestellt haben?«
Beth musste darüber nachdenken. »Ja, vielleicht.«
»Ja oder vielleicht?«, wollte Abbie wissen.
Die Verkäuferin wirkte verärgert, jetzt musste sie für jeden Einkauf zwei Stimmen gewinnen.
»Nein«, entschied Beth.
Abbie lachte, und die Verkäuferin lächelte durch die zusammengebissenen Zähne, ehe sie sich demonstrativ entschuldigte und verschwand, um eine andere Kundin zu bedienen.
»Danke für deine Meinung«, sagte Abbie leise. »Ich wollte sie sowieso loswerden.«