Der Mann kam immer noch näher, bis sein Schatten durch den gewölbten Torbogen fiel. Nach und nach wurden seine perfekt geschnittenen Züge klarer … In diesem Moment spürte sie, wie ihr Magen sich umdrehte, und schmeckte eine heiße Flut in ihrer Kehle.
»Beth«, hörte sie, »Hier steckst du!«
Sie drehte sich zur Seite, und da nichts anderes zur Stelle war, erbrach sie sich in einen glänzenden Messingtopf, der neben dem Bett aufgebaut war.
»O mein Gott!«, rief Abbie, und riss die hellgelben Vorhänge zurück. »Ach, du meine Güte!«
Beth erbrach sich erneut, unfähig, es zurückzuhalten.
»Holen Sie ein paar Handtücher«, befahl Abbie der Verkäuferin, die entgeistert neben ihr stand.
»Das ist absolut nicht erlaubt«, rief die junge Frau aus. »Die Musterzimmer dürfen nicht betreten werden, und …«
»Holen Sie mir ein verdammtes Handtuch«, schrie Abbie, ehe sie sich neben Beth aufs Bett setzte und ihr einen Arm um die Schultern legte. »War es das?«, fragte sie sanft. »Geht es dir jetzt besser?«
Beth nickte beschämt. Dann blickte sie zum gewölbten Torbogen und der gemalten Kulisse. Niemand war dort.
Die Verkäuferin kehrte mit einigen Ralph-Lauren-Handtüchern zurück und reichte sie missmutig an Abbie weiter. »Die werden Sie bezahlen müssen«, sagte sie.
»Fein. Setzen Sie sie mit auf die Rechnung, zusammen mit diesem Nachttopf.« Mit einem Zipfel des Handtuchs tupfte sie Beth das Kinn ab, dann reichte sie es ihr. Beth vergrub das Gesicht in dem tröstlich dicken Stoff und dachte Ich will hier nie wieder weg.
»Willst du dich wieder hinlegen?«, frage Abbie sie, »oder kannst du aufstehen?«
»Ich denke schon«, sagte Beth und klammerte sich immer noch an das Handtuch. Unsicher stand sie von dem Bett auf, während die Verkäuferin durch den Türbogen in beide Richtungen spähte.
»Ihr Freund ist schon gegangen«, sagte sie zu Beth.
»Wovon reden Sie da?«, erwiderte Abbie scharf.
»Hier war ein Mann«, antwortete die junge Frau, »aber der ist inzwischen verschwunden.« Sie blickte auf den beschmutzten Messingtopf. »Scheiße.«
Abbie legte den Arm um Beths Schulter und geleitete sie aus dem Musterzimmer. »Schicken Sie ihn mir nach Hause«, sagte sie. »Leer.«
Im Waschraum bat Beth Abbie, draußen zu warten, während sie sich frisch machte. Sie wollte allein sein, im Boden versinken und diesen ganzen Vorfall ungeschehen machen. Sie ließ das kalte Wasser laufen und spülte sich das Gesicht ab. Davon bekam sie schwarze Flecken unter den Augen, die sie anschließend mit dem neuen Handtuch fortwischen musste, das sie immer noch bei sich hatte. Was stimmte bloß nicht mit ihr? Sie erinnerte sich an den Traum, an diese Halluzination, dass ein Mann durch den Sand auf sie zukam. Aber hatte die Verkäuferin nicht gesagt, sie hätte ebenfalls jemanden gesehen?
Wenn es kein schlechter Traum gewesen war, was dann?
Abbie steckte den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte Beth und stellte das Wasser ab. »Ich werde mich nur nie wieder bei Bloomingdale’s blicken lassen können.«
Mit einem Arm an der Hüfte hielt Abbie sie fest, als sie zu den Fahrstühlen gingen. »Bist du sicher, dass du nicht schwanger bist?«, fragte sie halb im Scherz.
»Ganz sicher.«
»Dann brauchst du jetzt vor allem ein warmes Bett und ein ordentliches Erkältungsmittel. Du hast eindeutig Fieber.« Bei den Fahrstühlen warteten sie eine Weile, als eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und einer zusammenklappbaren Sportkarre herauskam.
»Ich werde dich mit dem Taxi nach Hause bringen«, sagte Abbie, »und dir eine Brühe kochen.«
In Beths Ohren hörte sich das gut an. Sie traten in den Lift, und bevor dieser sie nach unten brachte, warf Beth einen letzten verstohlenen Blick auf das Musterzimmer.
Die Verkäuferin trug gerade den Messingtopf fort, unter einem Tuch versteckt. Doch der Torbogen hinter ihr war leer, und dahinter erblickte Beth nichts als die ewig wandernden Sanddünen.
31. Kapitel
Carter wusste, dass das ruinierte Labor noch nicht betreten werden durfte, aber er musste trotzdem hinein, durch den hinteren Gang. Er musste noch einmal den Ort sehen, an dem er seinen größten Triumph hatte feiern wollen und der stattdessen zum Schauplatz seiner größten Tragödie geworden war. Polizei und Spurensicherung waren bereits fertig und hatten alle möglichen Proben gesammelt, doch als er raus auf die Straße ging, musste er sich trotzdem unter dem gelben Absperrband der Polizei bücken.
Er war auf dem Weg zum biomedizinischen Labor, wo er sich mit Ezra treffen wollte. Dr. Permut hatte offensichtlich die Analyse der Tinte und des Materials der Schriftrolle beendet, und er war bereit, die Ergebnisse mit ihnen durchzugehen. Carter wartete, um die Straße zu überqueren, als ein schmutziger brauner Wagen neben ihm anhielt und er jemanden sagen hörte: »Sie wissen, dass das immer noch der Tatort ist, an dem wegen Brandstiftung ermittelt wird. Sie dürfen dort nicht rein.«
Carter bückte sich und spähte in den Wagen. Es war Detective Finley.
»Tut mir leid.«
»Wo wollen Sie hin? Ich kann Sie ein Stück mitnehmen.«
»Nicht nötig«, sagte Carter, »es sind nur ein paar Blocks.«
»Kommen Sie schon«, sagte Finley und winkte mit dem Arm, »springen Sie rein.«
Carter hatte den Eindruck, es sei mehr als ein Angebot, und nachdem der Detective das Gerümpel vom Beifahrersitz auf den Boden gefegt hatte, stieg er ein. »Geradeaus«, sagte Carter, »zur Sechsten. Dort können Sie rechts abbiegen.«
»Ehrlich gesagt«, sagte Finley und schob seine dicken Brillengläser auf dem Nasenrücken nach oben, »wollte ich ohnehin mit Ihnen reden.«
Genau das hatte Carter befürchtet. »Über die Leiche, die ich gefunden habe?« Dieser Satz, dachte er, gehört zu denen, von denen ich nie dachte, dass ich sie einmal aussprechen würde.
»Worüber sonst?«, sagte Finley, griff in die Brusttasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. »Sehen Sie sich das hier an.«
Carter nahm das Blatt und entfaltete es. Im Wagen roch es nach abgestandenem Kaffee und fettigen Burgern. Bei dem Papier handelte es sich um die Fotokopie von zwei Fingerabdrücken. Carter blickte zum Detective hinüber.
»Wir haben sie vom Handlauf am Kelleraufgang.«
»Sie sehen sehr deutlich aus«, sagte Carter und überlegte, was sich sonst noch über Fingerabdrücke sagen ließe. Er hatte sich noch nie zuvor welche näher angesehen.
»Ja, nicht wahr?«, sagte Finley. »Und viel zu perfekt.«
Carter schaute erneut auf das Blatt, und jetzt konnte er sehen, dass die Windungen des Abdrucks in der Tat bewundernswert komplett und intakt waren. Perfekte Kreise in der Mitte, perfekte Rechtecke am äußeren Rand, ohne einen einzelnen Bruch oder eine Abweichung.
»Es gibt keine perfekten Fingerabdrücke«, fügte Finley hinzu. »Wenn es sie gäbe, wären wir niemals in der Lage, mit ihrer Hilfe jemanden zu erwischen.« Er zog ein nicht besonders sauberes Taschentuch aus der Tasche und putzte damit erst die Brillengläser und anschließend die Innenseite der Frontscheibe. »Sie sind doch Wissenschaftler – was fangen Sie damit an?«
»Mit den Fingerabdrücken? Keine Ahnung. Vielleicht hat das Labor einen Fehler gemacht.«
Der Detective schüttelte den Kopf. »Nee, ich hab das alles höchstselbst erledigt.«
Carter schwieg. Das Einzige, was ihm dazu einfiel, war, dass ein perfekter Fingerabdruck von einem perfekten Wesen hinterlassen worden sein musste – so etwas wie einem Engel vielleicht. Aber er hatte nicht vor, den Vergehen, die der Detective ihm möglicherweise insgeheim zur Last legte, auch noch geistige Verwirrung hinzuzufügen.