Carter richtete sich auf und trat vom Mikroskop zurück. »Aber was bringt es dazu, sich zu bewegen? Es fließt doch eindeutig!«
Aufgeregt kratzte Dr. Permut sich am Kopf. »Warum schon? Das Gewebe lebt.«
Ezra schloss die Augen, als wünschte er, er könnte die Neuigkeit ganz im Stillen verdauen.
Permut lutschte an seiner Pastille, als gäbe es kein Morgen.
Als Ezra die Augen wieder aufschlug, sah er Carter direkt an. »Sieht so aus, als hätte ich die Haut und du die Knochen.« Er wandte sich an Permut. »Würden Sie mir zustimmen, dass das zwei Enden ein und desselben Stocks sind?«
Permut nickte entschieden.
Carter bemühte sich, alles in den Kopf zu bekommen und irgendeinen Sinn in dem zu erkennen, was er soeben erfahren hatte.
Als ob Ezra das ahnte, rezitierte er laut: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, als Eure Schulweisheit sich erträumen lässt.«
Dr. Permut trat zum Mikroskop und entfernte den Objektträger. Er schob ihn in einen transparenten Umschlag, nahm einen weiteren, identischen Umschlag vom Labortisch und stopfte beide in die Tasche von Carters Lederjacke. »Ich will diese Proben nicht länger in meinem Labor haben«, sagte er und machte einen Schritt zurück, als hätte Carter eine Erkältung, die er sich nicht einfangen wollte. »Sie können sie mitnehmen, wenn Sie gehen.«
»Klar, natürlich«, sagte Carter. Er hatte Permut, oder irgendeinen anderen Wissenschaftler, den er je getroffen hatte, noch nie so kopflos erlebt. »Und danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« Er warf Ezra einen raschen Blick zu. Dieser sah aus, als verstünde er genau, warum Permut so reagierte.
»Was sind wir Ihnen schuldig?«, sagte Ezra, holte einen Blankoscheck hervor und zückte einen Stift. »Die Laboruntersuchungen allein müssen …«
»Nichts«, sagte Permut.
Ezras Stift verharrte mitten in der Luft über dem Scheck, den er auf dem Tisch neben das Mikroskop gelegt hatte. »Nichts? Ich weiß aus Erfahrung, dass DNA-Tests …«
»Ich will nichts mehr damit zu tun haben«, sagte Permut.
»Aber das muss Sie ein paar tausend Dollar gekostet haben«, warf Carter ein.
»Das ist mein Problem. Ich werde die Kosten auf ein paar andere Projekte verteilen. Lassen Sie das meine Sorge sein.« Ungeduldig tappte er mit dem Fuß auf den Linoleumboden. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss mich auch noch um andere Aufgaben kümmern.«
Carter zuckte die Achseln und nickte Ezra zu. »Ich glaube, hier sind wir fertig.« Als er das Labor zusammen mit Ezra verließ, hörte er, wie die Tür hinter ihnen geschlossen und abgesperrt wurde, sobald sie auf dem Flur standen.
Draußen piepste Ezra seinen Fahrer an. »Ich fahre nach Uptown, um meine Stiefmutter im Krankenhaus zu besuchen. Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«
»Nein, es geht schon«, sagte Carter. »Ich muss eine Weile spazieren gehen und meinen Kopf wieder klar bekommen.«
Die Lincolnlimousine mit Onkel Maury hinterm Steuer bog um die Ecke und parkte in zweiter Reihe auf der belebten Straße.
»Dazu braucht es mehr als einen Spaziergang«, sagte Ezra und hielt ihm die Hand entgegen, die Handfläche nach oben. Im ersten Moment wusste Carter nicht, was er wollte. »Die Probe der Schriftrolle«, sagte Ezra.
Carter durchsuchte seine Taschen, fand die Umschläge und reichte Ezra, worum dieser gebeten hatte.
»Danke«, sagte Ezra und öffnete die hintere Tür des Wagens. »Wir müssen uns morgen zusammensetzen und unsere Aufzeichnungen vergleichen.«
Carter nickte nur, als der Wagen anfuhr. Und obwohl er sich fühlte, als hätte er an Ort und Stelle Wurzeln geschlagen, raste sein Verstand mit einer Meile pro Sekunde dahin. Nichts von all dem ergab einen Sinn, und es war lächerlich, so zu tun als ob. Das Fossil, das Pergament – die Knochen, die Haut – waren Teil einer ausgeklügelten List, irgendeiner bizarren Intrige, eines Scherzes. Es musste so sein. Wenn Bill Mitchell nicht tot wäre, wäre er der Erste, den Carter in Verdacht hätte, hinter allem zu stecken. Aber Mitchell war tot, und dieser Teil war beileibe kein Scherz. Der Einsatz war bereits viel zu hoch. Joe war fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Es konnte kein Spiel sein und auch keine Intrige.
Irgendetwas musste da vor sich gehen. Ein schreckliches Drama offenbarte sich, und Carter befürchtete, dass er, ob er wollte oder nicht, dazu bestimmt war, eine Hauptrolle darin zu spielen.
32. Kapitel
Ezras Mut hatte neuen Auftrieb erhalten. Endlich waren seine Befürchtungen durch Beweise untermauert worden. Für einen Mann, der wusste, dass der Wahnsinn stets um die Ecke lauerte, war es seltsam tröstlich, herauszufinden, dass selbst die unmöglichsten Gedanken, die er erwogen hatte, vielleicht doch möglich waren.
Er war nicht verrückt. Allerdings schien das Universum es irritierenderweise zu sein.
Er schaute aus dem hinteren Wagenfenster und grübelte über das nach, was er gerade in Permuts Labor erfahren hatte. Die Schriftrolle bestand aus dem lebendigen Gewebe eines Lebewesens unbestimmter Herkunft. Beim Fragment des Fossils handelte es sich um Knochen derselben unidentifizierten Quelle.
Aber war diese Kreatur das, wofür er sie hielt? Und wer – oder was – hätte sie bei lebendigem Leib häuten können?
»Kimberly geht’s immer noch mies«, sagte Maury auf dem Vordersitz und unterbrach seine Gedanken. »Und sie finden auf Teufel komm raus nicht heraus, was sie eigentlich hat.«
Das überraschte Ezra nicht. Wenn seine Vermutung stimmte, dass es etwas mit ihrem Last-Minute-Partygast zu tun hatte, dann würden sie nie darauf kommen.
»Dein Dad ist gerade bei ihr.«
Davon war Ezra ausgegangen, und das war der Grund, warum er ihr jetzt einen Besuch abstatten wollte. Es war eine Gelegenheit, sich mit ihm zu versöhnen. Außerdem gehörte es sich einfach, ermahnte er sich, unter diesen Umständen.
Das Krankenhaus war ohnehin schon exklusiv, doch der Flügel mit Kimberlys Suite lag noch einmal besonders abgeschieden. Hier waren die Flure mit teurem Teppichboden belegt, die Wände mit farbenfrohen Drucken dekoriert, und die Türen bestanden aus poliertem Mahagoni. Für Ezra sah es eher nach einem kleinen europäischen Hotel aus als nach einem Krankenhaus, was zweifelsohne auch beabsichtigt war. Sein Vater saß im Vorraum, als Ezra eintraf, und schaltete gerade sein Handy aus.
»Ich habe Maury gesagt, dass er nicht auf uns zu warten braucht«, sagte er zu Ezra, »aber natürlich musste er wieder mit mir streiten.« Er warf das Telefon auf das Sofapolster.
»Wie geht es Kimberly?«
»Vor einer halben Stunde hatte sie einen hysterischen Anfall, hat sich alle Schläuche herausgerissen und angefangen zu delirieren.«
»Worüber?«
»Worüber?« Verwirrt blickte sein Vater ihn an. »Sie redete wirr, nichts davon ergab einen Sinn.«
»Erzähl es mir trotzdem.«
»Über Vögel und Feuer. Sie wurde von Vögeln angegriffen, deren Flügel aus Feuer bestanden. Zufrieden?«
Ezra merkte sich die Information, um sie am nächsten Tag an Carter und Russo weiterzugeben. Wer wusste schon, ob irgendein Hinweis sich als wichtig erweisen würde?
Eine Krankenschwester in weißer Uniform mit marineblauen Paspeln, die eher nautisch als medizinisch wirken sollte, kam aus dem Patientenzimmer. Sie trug ein Tablett mit einer Spritze und anderem Krimskrams. »Sie ist jetzt stark sediert und wird bis zur Operation morgen früh durchschlafen.« Sie lächelte Sam und Ezra zu und verschwand.
»Was für eine Operation?«, fragte Ezra seinen Vater. »Haben sie herausgefunden, was ihr fehlt?«
»Nicht ganz.« Sein Vater hatte sein Anzugjackett auf das Sofa gelegt, und ließ sich jetzt, nur in Hemdsärmeln, hineinsinken. Auf der Brusttasche war natürlich sein Monogramm eingestickt, und die Manschettenknöpfe glitzerten. »Eine Blutvergiftung. Organversagen. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass sie schwanger ist.«