Ezra war nicht völlig überrascht, und sein Vater bemerkte es. »Du wusstest es?«, fragte er.
»Ich wusste, dass sie meine Zimmer als Kinderzimmer einrichten wollte.«
»Dazu wäre es nie gekommen.«
Einen Moment lang schöpfte Ezra Mut. War es am Ende doch möglich, dass sein Vater nie vorgehabt hatte, ihn durch ein neueres und jüngeres Modell zu ersetzen? Doch dann begriff er, was es wirklich bedeutete.
»Ich habe mich schon vor Jahren sterilisieren lassen«, räumte sein Vater ein. »Als du noch ein Teenager warst.«
Schweigen breitete sich aus. Sam begriff, wie es auf Ezra wirken musste, aber es war zu spät, um die Worte zurückzunehmen. Ezra musste mit dem Schlag fertig werden. »Am Anfang habe ich ihr nichts gesagt«, erklärte sein Vater, »warum auch? Und später, als ich feststellte, was sie sich wünschte, sollte sie nicht erfahren, dass ich es ihr nicht geben kann.«
Es dürfte so ziemlich das Einzige sein, das er ihr nicht geben konnte, dachte Ezra.
»Ich wollte sie nicht verlieren«, sagte Sam, und in diesem Moment begriff Ezra zum ersten Mal, dass sein Vater Kimberly tatsächlich und aufrichtig liebte. Er war nicht einfach nur ein alter Mann, der in ein hinreißendes junges Ding vernarrt war, wie Ezra und wahrscheinlich der Rest der Welt gedacht hatten. Die Tatsache, dass sie jetzt schwanger war, musste ein schwerer Schlag für ihn sein.
»Es ist mir völlig egal, wer … dafür verantwortlich ist«, sagte Sam, als er Ezras Gedanken erriet. »Jetzt spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«
Ezra dachte an die blauen Flecken, die er auf ihrem Körper gesehen hatte, und war froh, jetzt mit Bestimmtheit zu wissen, dass sein Vater nichts damit zu tun hatte.
»Die ganze Sache ist völlig aus dem Ruder gelaufen«, fuhr Sam fort. »Die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten, ist eine Abtreibung gleich morgen früh. Danach, so sagte man mir, wird sie nie wieder Kinder bekommen können.«
»Nach diesem brauche ich auch keine mehr«, sagte Kimberly, die schwankend in der Tür zu ihrem Zimmer aufgetaucht war. Sie trug ein langes blassrosa Nachthemd, und die Infusionsschläuche, die am Rollständer befestigt waren, steckten immer noch in ihrem Arm.
Doch was Ezra am meisten schockierte, war ihr Bauch. Selbst unter dem Nachthemd konnte er die Schwellung ihres Unterbauchs erkennen. Noch einen Tag zuvor war nichts zu sehen gewesen, und jetzt sah sie aus, als könnte sie jeden Moment ein Kind gebären. Wann war das geschehen? Wie konnte das geschehen?
»Warum bist du nicht im Bett?«, fragte Sam und stand vom Sofa auf. Falls er ebenso schockiert war wie Ezra, so merkte sein Sohn nichts davon. Aber wie hatte sie es bei den ganzen Beruhigungsmitteln, die sie bekommen hatte, überhaupt geschafft, aufzustehen?
»Ich muss zu ihm«, sagte sie und schob eine feuchte Haarsträhne zurück, die in ihrem Gesicht klebte. »Er ist der Einzige, der dafür sorgen kann, dass es aufhört.«
»Dass was aufhört?«, fragte Sam und ging zu ihr. »Ezra, ruf die Krankenschwester.«
»Das Feuer.«
»Hier ist kein Feuer«, sagte Sam und ergriff behutsam ihren Arm. Doch noch während Ezra zusah, zog sein Vater die Finger zurück und schüttelte sie in der Luft, als hätte er sich verbrannt.
Kimberly lachte irre. »Ich habe es dir gesagt.«
Ezra wollte zur Tür gehen, um eine Schwester zu rufen, aber er blieb wie gelähmt stehen. Kimberlys Blick flackerte auf, als sei in ihrem Inneren ein Feuer entfacht worden, das langsam zu einer lodernden Flamme anwuchs.
»Was zum Teufel …« Sams Worte verloren sich, während er zurückwich und auf die Flurtür zuschwankte.
Stöhnend krümmte Kimberly sich zusammen und umklammerte ihren Bauch. »Mach, dass es aufhört«, murmelte sie durch zusammengebissene Zähne.
Ezra packte sie, ehe sie vornüberkippte, und ihre Blicke trafen sich. Es war, als blickte er in den Krater eines Vulkans, kurz vor dem Ausbruch.
»Schwester! Doktor! Wir haben einen Notfall!« Sein Vater war draußen im Flur und schrie sich die Lunge aus dem Leib.
»Bring es um«, sagte Kimberly. Ihr Atem war so heiß, dass Ezra spürte, wie er sein Gesicht verbrannte, dann brach sie zusammen. Der Ständer mit den Infusionsschläuchen krachte zu Boden. Ezra drehte sie um. Ihre Haut war heiß wie ein Bügeleisen. Als er in ihre Augen sah, könnte er schwören, dass dort noch jemand war, Etwas, das ihn aus Kimberlys glühend gelben Augen heraus ansah.
»Platz da!«, sagte der Arzt und schob Ezra zur Seite. Der Notfallwagen rollte ratternd ins Zimmer.
»Zum Teufel«, rief der Arzt aus und blies sich auf die verbrannten Fingerspitzen.
»Töte es«, wimmerte Kimberly zwischen zwei heißen keuchenden Atemzügen. »Ich halte es nicht länger aus.«
»Eis! Wir müssen sie in ein Eisbad legen!«
Die Krankenschwestern wuselten hektisch durcheinander.
Schockiert hockte Ezra sich neben sie auf den Boden, sein Gewicht ruhte auf den Händen, als sie plötzlich in Zuckungen ausbrach. Sie presste die Hände auf ihren Leib und grub die Finger in die eigene Haut, als versuchte sie, sich das Baby selbst herauszureißen. Sie hob die Knie bis zur Brust hoch, und ein Blutstrom ergoss sich unvermittelt über den Boden.
Dem Arzt wurde eine Spritze gereicht, doch seine Hände zitterten so heftig, dass er sie nicht entgegennehmen konnte. »Ich … kann es nicht tun!«
Eine Schwester schnappte sich die Spritze und versuchte es selbst. Dieses Mal verschwand die Nadel im Arm, brach jedoch ab, als Kimberly sich unter Schmerzen wand.
»Wir brauchen einen Druckverband – sofort!«, schrie die Schwester.
Kimberlys Bauch schien anzuschwellen, wie ein Luftballon, den man plötzlich noch einmal kräftig aufgepumpt hatte. »Bringt mich um!«, schrie sie im Todeskampf, »tötet mich!«
Sie warf den Kopf zurück, und sie stieß einen Schrei voller Angst und Verzweiflung aus, einen Schrei, der Ezra durch Mark und Bein ging … und in den jemand einzufallen schien. Er könnte schwören, dass er noch eine Stimme gehört hatte, ein gedämpftes Wehklagen in ihrer Gebärmutter.
Selbst der Arzt und die Schwester hielten schockiert inne. Sie hatten es ebenfalls vernommen.
Und dann lag Kimberly vollkommen still, ihr Körper auf dem mit Blut bedeckten Boden erschlaffte, die Augen schlossen sich und der Mund klappte auf. Die Spitzen ihrer Haare knisterten wie Draht unter Spannung, um schließlich ebenfalls Ruhe zu geben.
»Völliges Organversagen«, sagte der Arzt benommen und mit monotoner Stimme.
Ezra wusste, dass sie es nicht schaffen würden, sie zurückzuholen, egal, wie sehr sie sich abmühten.
Nach dem, was sie durchgemacht hatte, hatte er den Verdacht, dass sie es ohnehin vorziehen würde, tot zu bleiben.
33. Kapitel
Für Russo gab es am Tag nicht viel, worauf er sich freuen konnte. Da waren die kurzen Morphinschübe, die er sich selbst verabreichen konnte, indem er den schwarzen Knopf drückte, der neben seiner verbrannten Hand auf dem Bett lag, genau neben dem roten Rufknopf. Da waren die Träume, in denen er sich verlieren konnte, davon, wie er in dem Vorort von Rom aufgewachsen war und mit den Freunden seiner Kindheit die uralten Ruinen erforscht hatte. Und da war die zärtliche Fürsorge einer hübschen jungen Schwester namens Monica.
Heute hatte sie ihm während des Verbandswechsels alles über die Verabredung vom vorigen Abend erzählt. Als sie die antiseptische Salbe aufgetragen hatte, hatte sie ihn mit den neuesten Schlagzeilen versorgt. Er sah ihr gerne in die Augen. Sie waren dunkel und strahlten, und sie zeigten kein Entsetzen bei seinem Anblick. Vielleicht, weil sie schon so viele Brandopfer gesehen hatte. »Dr. Baptiste hat mir gesagt, dass es bei Ihnen nächste Woche mit den Hauttransplantationen losgeht«, erzählte sie ihm jetzt.