»Hey, Mann! Wir haben es zuerst gesehen«, rief einer.
»Er gehört zur Fakultät«, hörte Carter den anderen sagen. »Professor Bones.«
»Na und?«, erwiderte der Erste, aber Carter war bereits im Wagen, knallte die Tür zu und sagte dem Fahrer, er solle zum St. Vincent’s fahren. Er wählte die Nummer von Ezras Wohnung, und diese Frau, die ihnen den Lunch serviert hatte, Gertrude oder so ähnlich, meldete sich mit gedämpfter Stimme.
Als er seinen Namen nannte und Ezra verlangte, schien sie unsicher zu sein, was sie tun sollte.
»Es ist äußerst wichtig«, sagte Carter. »Ich muss ihn sprechen. Sofort.«
Zentimeterweise schob sich das Taxi durch den Verkehr im West Village.
Schließlich kam Ezra ans Telefon.
»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte Carter. »Ich glaube, Joe ist etwas zugestoßen.«
»Was?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Carter und wollte selbst jetzt noch nicht an die furchtbaren Möglichkeiten denken. »Aber es kann sein, dass er Besuch hatte. Von Arius.«
Er hörte, wie Ezra den Atem anhielt.
»Sobald ich dort fertig bin«, sagte Carter, »komme ich zu dir.«
»Hierher?«
»Du wirst mir diese ganze verdammte Schriftrolle zeigen, alles, was du bereits zusammengesetzt hast, und dann werden wir herausfinden, was wir zu tun haben.«
Carter legte auf und stopfte ein paar Dollarnoten in den Metallbehälter in der Zwischenwand aus Plexiglas. »Das sind zwanzig Kröten«, sagte er. »Beeilen Sie sich.«
Der Fahrer griff mit der Hand nach hinten, fischte die Geldnoten aus der Dose und gab Gas. Er jagte das Taxi über drei gelbe und eine rote Ampel, aber als er zum Block kam, in dem das Krankenhaus lag, war der Eingang von drei Feuerwehrwagen und einem halben Dutzend Polizeiwagen mit kreisenden roten Lichtern versperrt. Jetzt wusste Carter, dass er mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte.
»Lassen Sie mich auf der anderen Straßenseite raus.«
Das Taxi wendete auf den verstopften Fahrbahnen und hielt vor dem Maschendrahtzaun an, der das abbruchreife Lager für medizinisches Zubehör umgab. Carter stieg aus, spurtete los und schlängelte sich durch das Durcheinander aus Polizeiautos und Feuerwehrwagen. Über die quäkenden Funkgeräte und Walkie-Talkies hinweg schnappte er hier und da ein paar Brocken auf. Er hörte »Das Feuer ist unter Kontrolle« und »Der größte Schaden entstand im sechsten Stock.« Joes Etage. Bis jetzt hatte er nichts über Todesopfer gehört.
Die beiden Seitentüren waren weit geöffnet, aber gedrängt voll mit Notfallpersonal, das rein und raus eilte. Carter benutzte stattdessen die Drehtür, trat ein und schob sie an.
Kaum hatte er das sich drehende Abteil betreten, da hatte er das Gefühl, direkt nach einem Sommerregen in einen dichten Wald gestolpert zu sein. Es war derselbe Geruch, der ihm auch in seiner eigenen Wohnung aufgefallen war, in jener Nacht, als er Beth nahezu nackt im Bett ausgestreckt gefunden hatte und das Fenster zur Feuerleiter geöffnet gewesen war.
Kurz darauf stand er mitten im Tumult in der Krankenhauslobby. Die Duftwolke, die ihn umhüllt hatte, hatte er genauso unvermittelt hinter sich gelassen, wie er hineingeraten war. Feuerwehrmänner und Polizisten setzten eine Art Notfallplan um, und Carter begriff rasch, dass es sich um eine Evakuierung handelte. Eine Gruppe nervöser Besucher wurde aus einem Fahrstuhl und zu den Ausgängen geführt. Ein Polizist rief: »Hey, Sie da!« und meinte Carter damit. »Das Krankenhaus ist geschlossen.«
Carter nickte und machte kehrt, doch anstatt durch die Drehtür wieder hinauszugehen, verschwand er geduckt in einem kurzen Korridor, von dem er wusste, dass er zum Treppenhaus führte. Die Tür stand offen, und über sich hörte Carter die quietschenden Gummistiefel der Feuerwehrmänner. Er erklomm die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, und stieß auf dem dritten Absatz auf einen Trupp Feuerwehrleute.
»Ich bin Arzt, ich habe gerade den Anruf bekommen«, sagte er, während er sich zwischen ihnen hindurchdrängte. »Sechster Stock, richtig?«
»Stimmt«, sagte einer von ihnen, doch Carter war bereits am nächsten Treppenabsatz und dann beim übernächsten.
Im sechsten Stock blieb er stehen und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen und sich gegen das zu wappnen, was er vorfinden würde. Der Brandgeruch war stärker geworden, je höher er gekommen war, so dass es für ihn außer Frage stand, dass es eine Explosion gegeben hatte.
Wie die Explosion in seinem Labor.
Die Tür stand offen und war festgehakt, und von der anderen Seite hörte Carter einen ungeheuren Krach. Der Boden glänzte vom Wasser, das, schwarz vor Ruß und Asche, immer noch ins Treppenhaus lief und die Stufen hinuntertropfte. Er trat über ein Rinnsal hinweg und in den breiten Korridor des sechsten Stocks.
Hier herrschte ein heilloses Chaos. Feuerwehrmänner und Polizisten halfen dem Pflegepersonal dabei, die verbliebenen Patienten aus dem zerstörten Bereich zu holen. Vorsichtig wurden die Kranken in ihren Betten aus den Zimmern und durch die Trümmer gerollt. Carter umrundete das verlassene Schwesternzimmer und ging in die Richtung von Joes Zimmer. Noch ehe er sein Ziel erreicht hatte, sah er, dass es sich dabei um das Epizentrum der Zerstörung handelte. Die Tür fehlte völlig, ebenso ein Teil der Wand. Das Fenster gegenüber der Tür war herausgedrückt worden, und ein starker Luftzug sorgte dafür, dass permanent eine Aschewolke in der Luft herumwirbelte. Angehörige der Rettungsmannschaft liefen im Zimmer herum, hielten sich jedoch sorgsam von einem geschwärzten Haufen fern, der in der Nähe der Stelle lag, wo einmal die Tür gewesen war. Carter drehte sich der Magen um.
Er spürte eine Hand an seinem Ellenbogen, die ihn zurückzog.
»Sie dürfen dort nicht hinein«, hörte er jemand sagen. Als er sich umdrehte, sah er Dr. Baptiste, das Haar zerzaust, das Gesicht dreckverschmiert. »Sie können nichts mehr für ihn tun.«
Sie zog ihn fort.
»Was ist passiert?«, fragte Carter wie betäubt.
Sie zerrte ihn den Korridor hinunter und durch die Tür in ein evakuiertes Zimmer.
»Niemand weiß es«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kittels über die Augen. Er war grau vor Ruß. »In seinem Zimmer ging ein Rauchmelder los, und ich eilte los, um nach ihm zu sehen. In dem Moment sah ich den anderen Mann den Raum verlassen.«
»Welchen anderen Mann?«, fragte Carter, obwohl er es im Grunde bereits wusste.
»Der große mit dem blonden Haar«, sagte sie, und während sie sprach, schien ihr Blick Carter mit erstaunlicher Intensität zu durchbohren. »Wissen Sie, wen ich meine?«
»Ja.«
»Dann können Sie mir vielleicht etwas erklären«, sagte sie und ergriff erneut seinen Arm. »Er kam aus dem Zimmer, und ich sah, wie er die Tür hinter sich schloss. Ich hielt ihn auf, um ihn zu fragen, warum der Rauchmelder losgegangen sei. Ich ergriff seinen Arm, genau so wie Ihren jetzt«, sagte sie und blickte auf Carters Ellenbogen hinunter, »aber ich weiß nicht, was ich da festhielt.«
Carter wusste nicht, was er sagen sollte. Was sollte er ihr erzählen, das sie glauben könnte?
»Er trug eine dunkle Sonnenbrille«, fuhr sie fort, »so dass ich seine Augen nicht richtig erkennen konnte. Aber jetzt bin ich froh, dass ich sie nicht gesehen habe.«
»Das sollten Sie auch«, erwiderte Carter.
»Dann ist das ganze Zimmer einfach explodiert. Ich wurde durch den halben Flur geschleudert. Alles im Zimmer stand in Flammen«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf, »alles. Und der Mann mit der Sonnenbrille war verschwunden.«
Natürlich war er das, dachte Carter. So würde es immer sein. Er säte Tod und Verderben, und dann verschwand er. Was hatte er davon gehabt, Joe zu töten?
Aber da war eine Sache, die Dr. Baptiste gesagt hatte, die Carter nicht aus dem Kopf ging. Sie hatte gesagt, der Mann habe die Tür hinter sich geschlossen. Vorsichtig nahm Carter ihre Hand von seinem Arm und sagte: »Ich muss etwas erledigen.«