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»Du arbeitest heute aber lange«, sagte Carter, und Mitchell schreckte auf.

»Mann, ich habe dich gar nicht hereinkommen hören«, sagte er und schob seine Brille auf der Nase nach oben. Sein langes schwarzes Haar, das immer so fettig aussah, als könnte er damit einen Motor schmieren, hing ihm in die Stirn. Aus irgendeinem Grund sah er noch nervöser aus als gewöhnlich. »Ich dachte, du hättest mittwochs abends ein Seminar.«

»Das war letztes Semester.«

»Und warum bist du dann nicht zu Hause bei deiner wunderschönen Frau?«

»Meine wunderschöne Frau arbeitet heute Abend«, sagte Carter und hängte seine Lederjacke an die Rückseite der Tür. »Ich dachte mir, ich komme mal vorbei und arbeite die liegengebliebenen Sachen auf.«

Als sei er unsicher, was er machen sollte, blickte Mitchell auf die Proben vor sich.

»Woran arbeitest du gerade?«, fragte Carter, aber als er näher kam, konnte er es selbst erkennen. Und es machte ihn nicht gerade glücklich. Mitchell hatte einen der transparenten Umschläge aufgerissen und untersuchte eifrig eines der gespendeten Fossile unter der Leuchtstofflampe.

»Ich konnte einfach nicht widerstehen«, sagte Mitchell mit einem matten Lächeln. »Ich dachte, vielleicht entdecke ich etwas und erspare dir so etwas Zeit.«

Carter sagte nichts.

»Dies hier, zum Beispiel«, sagte Mitchell und holte tief Luft, »sieht aus wie das Fragment eines Kieferknochens. Ich denke da an den Smilodon, bin mir aber nicht wirklich sicher. Was siehst du darin?«

Carter wusste nicht, was er sagen sollte. Das war ein ziemlich heftiger Verstoß gegen die Laboretikette, ganz zu schweigen vom beruflichen Ethos. Wenn er wollte, könnte er Mitchell deswegen in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Zweifellos wusste Mitchell das ebenfalls, weshalb ihm jetzt auch der Schweiß auf die Stirn trat. Carter streckte die Hand aus und drückte den Stopp-Button des Ghettoblasters.

»Ist das die erste Probe, die du geöffnet hast?«, fragte er.

»Äh, ja, eindeutig. Ich meine, ich habe gerade an etwas anderem gearbeitet, aber ich habe diese Tüten ständig aus dem Augenwinkel gesehen, und na ja, du weißt ja, wie das ist … wie soll man als Paläontologe die Finger von so verlockendem Material lassen können?«

»Ja«, sagte Carter trocken. »Ich weiß, wie das ist.« Er wusste auch, wie es war, so verzweifelt zu sein, so sehr auf den Durchbruch bei der Arbeit zu hoffen, der einem irgendwo eine Festanstellung bescheren würde. Aber das war keine Entschuldigung. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn du mir die Anfangsarbeit überlässt. Dafür werde ich schließlich bezahlt.«

»Absolut«, bestätigte Mitchell und schaltete die Lampe aus.

»Wenn ich Unterstützung brauche, lasse ich es dich wissen.«

»Cool. Kein Problem«, sagte Mitchell, schob die Probe zurück in den Umschlag und reichte ihn Carter.

Carter wandte sich ab und ging zu seiner eigenen Ecke im Labor. Was für eine Schwachsinnsaktion! Er hatte bereits beschlossen, niemandem davon zu erzählen, weder innerhalb noch außerhalb des Fachbereichs, als Mitchell sagte: »Hey, Carter …«

»Ja?«

»Tut mir leid, falls ich eine Grenze überschritten habe. Da kommt doch nichts nach, oder?«

Carter schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er konnte Mitchells erleichterten Seufzer beinahe hören.

»Carter?«

»Ja.«

»Eins noch.«

Carter fragte sich, ob er überhaupt zum Arbeiten kommen würde, solange Mitchell im Labor war.

»Macht es dir etwas aus, wenn ich die Musik wieder anmache? Ich kann mich dann besser konzentrieren.«

»Mach ruhig«, sagte Carter. Wenigstens würde Mitchell nicht versuchen, mit ihm zu reden, solange der Ghettoblaster plärrte.

In der Raleigh Galerie in der Siebenundfünfzigsten East schlenderten die Käufer durch den Hauptsaal. Es handelte sich um ein paar Europäer, zwei von ihnen mit einem Titel, ein paar asiatische Wirtschaftsbosse und eine Handvoll ausgewählte Plutokraten. Derjenige, den Beth im Auge behielt, war selbst nicht einmal besonders reich. Aber er war Kurator des Getty-Museums in L. A. Die anderen entschieden sich möglicherweise, etwas zu kaufen, das konnte man nie wissen, aber der Vertreter des Museums mit seinem gewaltigen jährlichen Budget war geradezu verpflichtet, etwas davon auszugeben. Und die Werke, die in der Galerie zum Verkauf standen, gehörten genau zu jenen Stücken, die das Getty normalerweise gerne erwarb. Obwohl es ein paar gute Ölgemälde gab, vor allem den Salvator Rosa, handelte es sich zumeist um Zeichnungen der Alten Meister, einschließlich mehrerer Tizians. Es bedurfte schon echten Sachverstands, um zu begreifen, wie erlesen und wertvoll sie waren.

»Was hat es mit diesem hier auf sich?«, fragte ein jüngerer Typ und deutete mit einem Kopfnicken auf eine Studie von Tizian, die den Kopf eines Mannes mit geschlossenen Augen darstellte, eingehüllt wie für eine Beerdigung. Beth drehte sich zu dem Besucher um. Er hatte ein rundliches Gesicht, das vollkommene Ahnungslosigkeit ausstrahlte, und einen blonden Bürstenhaarschnitt. Das musste einer von den Typen sein, die mit einem intakten Vermögen aus Silicon Valley entwischt waren. Davon gab es immer noch welche.

»Das ist ein später Tizian.«

»Italiener, stimmt’s?«

»Ja, richtig.« Sie sah seine Augen vor Stolz aufleuchten. »Aus der Gegend um Venedig.«

»Ist der Kerl auf dem Bild tot?«

»Nein, er betet. Es zeigt den Kaiser Karl V., der bei Tizian ein Gemälde des Jüngsten Gerichts in Auftrag gab. Aus eigenem Antrieb fügte Tizian den Kaiser und seine Familie in das Bild mit ein. Dies hier ist eine Studie dafür.«

»Es ist nett«, verkündete der Bürstenkopf. »Wie teuer soll das sein?«

Obwohl sie den Preis auswendig wusste, öffnete Beth ihre Ledermappe und tat, als würde sie nachsehen. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, als sie mit dem Finger die Ausstellungsliste entlangfuhr. »Der geforderte Preis beträgt 250 000 Dollar.«

Der Bürstenkopf blinzelte nicht einmal.

»Das Jüngste Gericht«, fuhr sie fort, »ist eines von Tizians bekanntesten und ergreifendsten Werken. Wenn Sie wünschen, kann ich den Eigentümer der Galerie herbitten, damit er Ihnen mehr darüber erzählt, und über diese Zeichnung im Besonderen.«

»Nein«, erwiderte er und sah sie erneut an. »Ich würde lieber mit Ihnen reden.«

Welch eine Überraschung.

»Mein Name ist Bradley Hoyt«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

»Beth Cox«, erwiderte sie und schüttelte die Hand.

»Es gefällt mir sehr, Beth, aber ich würde nie etwas kaufen, ehe meine eigenen Leute nicht einen Blick darauf geworfen haben.«

»Das verstehe ich vollkommen«, sagte sie und zog ihre Hand zurück. »Wir können jederzeit eine private Schau arrangieren. Oder, wenn Ihnen das lieber ist, können wir das Stück auch zu Ihren Experten bringen lassen.«

»Nee, das ist schon okay. Die können ruhig zu Ihnen kommen. Sind Sie die ganze Zeit hier?«

Sie lächelte. »Meistens, leider.«

»Wo sind Sie, wenn Sie nicht hier sind?«

Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um die Sache im Keim zu ersticken. »Zu Hause. Bei meinem Mann.«

»Ja, ich habe den Ring gesehen. Aber wenn Sie sich wegen eines so großen Kaufs mit einem Kunden treffen müssen, können Sie doch für ein paar Stunden weg, um ihn zu beraten, stimmt’s?«

»Wir können die Galerie jederzeit öffnen.«

»Ich dachte eher an so etwas wie Lunch im Stanhope. Oder ein Dinner.«

»Tut mir leid, aber mir wäre nicht wohl dabei, so ein wertvolles Stück auf eigene Faust aus der Galerie mitzunehmen.«