Keine Straßenlaterne schickte ihren Schein bis hierher, aber der Mond war hell und tauchte die Ruine in ein fahles silbriges Licht. Carter fischte die Taschenlampe aus seiner Tasche und bahnte sich in ihrem Strahl seinen Weg über das heimtückische Terrain. Der Boden war bedeckt mit einer Mischung aus alten Trümmern aus Steinen und verrotteten Brettern und neuerem Müll wie Plastikreinigungsflaschen und hier und da einer verdreckten Matratze. Als er das Sanatorium erreichte, legte er eine Hand auf den Fuß der Feuerleiter, die am Gebäude baumelte wie ein verdrehter Kleiderbügel, und rüttelte ein paar Mal daran. Nichts bewegte sich oder gab nach. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die unterste Sprosse und probierte, ob sie sein Gewicht trug. Bis auf ein rostiges Quietschen schien das Bauteil noch stabil genug zu sein.
Er drehte sich zu Ezra um, der zustimmend nickte.
»Aber drängle nicht«, sagte Carter und senkte instinktiv seine Stimme. »Warte, bis ich von der Treppe runter bin, ehe du raufkommst.«
Er kletterte ein paar Stufen höher. Das Quietschen wurde lauter, und als er den ersten Stock erreicht hatte, wo die Fensteröffnung zugemauert war, spürte er, wie plötzlich ein Beben durch die Metallstufen ging. Eine Sekunde lang erwog er, umzukehren, doch dann sah er, dass es bis zum leeren Fenster des zweiten Stocks nur noch wenige Schritte waren, und nahm von den restlichen Stufen drei auf einmal. Von der Fensterbank aus ließ er den Strahl der Taschenlampe durch das Innere wandern, um sicherzugehen, dass es einen Fußboden gab, auf dem er landen konnte, dann duckte er sich und kletterte über das verrottete Fensterbrett hinein.
Als er den Kopf wieder durchs Fenster steckte, sah er, dass Ezra bereits den Rucksack geschultert hatte. Schweigend winkte er ihm zu, hochzukommen. Dann wandte er sich um und suchte die neue Umgebung mit Blicken ab.
Dieses Stockwerk konnte nie als medizinisches Lager genutzt worden sein. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem langen schmalen Raum um einen der ehemaligen Krankensäle. An den Wänden standen mehrere eiserne Bettgestelle aufgereiht, deren Spiralfedern größtenteils zu Staub zerfallen waren. Ein metallener Ablagewagen ohne Räder lag auf der Seite. Am anderen Ende des Raumes führte eine große offene Tür in die Dunkelheit.
Ezra kletterte durch das Fenster ins Zimmer. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Wie sollen wir jemals das ganze Gebäude durchsuchen können?«
»Hoffen wir, dass das nicht nötig ist.«
Carter ging voran. Seine Taschenlampe erfasste die Löcher im Boden sowie die gesplitterten Dielen, die in merkwürdigen Winkeln herabhingen. Schließlich erreichten sie die Tür. Mit der Lampe leuchtete Carter den Flur in beide Richtungen aus. Direkt vor ihnen lockte ein breiterer Korridor.
»Dieser dort«, flüsterte Carter, »sieht aus, als würde er uns am ehesten in den Bauch der Bestie führen.«
Obwohl sie so leicht auftraten, wie sie konnten, hallten ihre Schritte im höhlenartigen Inneren des Gebäudes wider. Zu beiden Seiten waren die Wände mit Löchern übersät und voller Wasserflecken. Die Türen zu den Zimmern waren entweder herausgefallen oder standen offen und gaben den Blick auf karge Räume frei. Hier und da entdeckten sie noch ein Bettgestell, eine Kommode ohne Schubladen oder ein zerbrochenes Waschbecken am Boden.
Vor ihnen, gerade noch im Lichtkegel von Carters Taschenlampe, schien sich der Raum zu öffnen, es fühlte sich sogar an, als wehte ein frischerer Lufthauch aus dieser Richtung. Aufgrund der Anordnung der anderen Flure gewann Carter den Eindruck, dass das alte Krankenhaus als ein einziges großes Quadrat angelegt worden war, mit einem offenen Platz genau in der Mitte. Als sie näher kamen, wurde die Luft frischer, und die Dunkelheit wurde allmählich schwächer. Selbst die Decke wurde am Ende des Korridors höher.
Und dann war die Decke ganz verschwunden. Carter blieb stehen, genau wie Ezra neben ihm, blickte empor und sah eine Wolkenbank vor dem Mond dahinjagen. Sie befanden sich in einem riesigen offenen Raum, der wie ein Wintergarten wirkte. Über ihnen befanden sich die Überreste von etwas, was einst ein riesiges Oberlicht gewesen zu sein schien. Die eisernen Stützbalken, oder zumindest einige davon, krümmten sich über ihnen wie schwarze Finger, doch die übergroßen Glasscheiben, die sie einst gehalten hatten, waren komplett verschwunden. Alles, was von den Fenstern übrig geblieben war, waren Tausende körnige Splitter, die unter ihren Füßen knirschten. In der Mitte des Raumes befand sich ein versiegter steinerner Springbrunnen mit einer Art Statue in der Mitte, die aus dieser Entfernung nicht zu erkennen war.
»Sieht aus, als sei das früher einmal das Sonnenzimmer gewesen«, sagte Carter.
Ezra leuchtete mit seiner eigenen Taschenlampe im Saal herum. Schwere Holzsäulen ragten wie Telegraphenmasten in die Höhe, um ein Dach zu tragen, das nicht mehr dort war. Jegliche Farbe war verblasst, es war eine Welt aus Schwärze und Schatten, in der im silbrigen Schimmer des Mondlichts kaum Konturen erkennbar waren. Selbst die Geräusche der umgebenden Stadt fehlten. Alles, was sie hörten, war der Wind, der am verrotteten Holz und den abgewetzten Ziegeln rüttelte. Doch dann erfasste sein Lichtstrahl etwas Glitzerndes, das an einem der senkrechten Holzbalken befestigt war.
Als er näher kam, konnte Ezra erkennen, was es war. Ein Kruzifix. Er winkte Carter heran.
Während Carter es anschaute, fragte Ezra leise: »Ob es von einem ehemaligen Patienten des Sanatoriums stammt?«
Doch Carter schüttelte den Kopf. Er erkannte sofort das Kruzifix wieder, das er zuletzt auf der Intensivstation für Brandopfer im St. Vincent’s gesehen hatte. »Es gehörte Joe.«
Ezra wusste nicht, was er davon halten sollte. Einerseits war er erleichtert, weil sie tatsächlich auf der richtigen Spur waren, doch zugleich war er auch verwirrt. Wenn seine Theorien stimmten, würde Arius sich für so etwas zuletzt interessieren. Und noch weniger würde er es in seinem Schlupfwinkel zur Schau stellen. Aber was gäbe es sonst für eine Erklärung dafür, wie es hierhergekommen war?
Als er erneut in die düsteren Winkel des Raumes spähte, entdeckte Ezra noch etwas, das ebenfalls an einer der Säulen befestigt war. Etwas, das sich, soweit er es aus der Ferne beurteilen konnte, als ebenso seltsam erweisen könnte.
Er ging an dem steinernen Springbrunnen vorüber, dessen Becken trocken und zerbrochen war, und folgte dem Strahl seiner Lampe bis zu einem kleinen Farbklecks in einem vergoldeten Rahmen. Es war ein Aquarell, unverkennbar ein Degas, und als Carter neben ihm stand, sagte Ezra: »Und dies hier gehörte Kimberly. Sie hatte es in ihrem Ankleidezimmer hängen.« Es hing schief an einem rostigen Nagel, der mitten durch das Bild geschlagen worden war. »Er hat sich nicht viel Mühe damit gegeben, es richtig aufzuhängen«, fügte er hinzu. Er brauchte nicht auszusprechen, was sie beide wussten: Das Bild war von ihrem flüchtigen Engel dort angebracht worden. »Aber warum?«, überlegte Ezra laut. »Warum das Kruzifix? Und warum dieses Bild? Schließlich respektiert er weder die religiöse Bedeutung des einen, noch kann er von der Schönheit des anderen so verzaubert sein.«
Carter kannte den Grund, obwohl ihm bei dem Gedanken daran schlecht wurde. In verschiedenen paläontologischen Ausgrabungsstätten hatte er Ähnliches gesehen. Geweihe und Kieferknochen, die an Höhlenwänden hingen, oder eingeschlagene hominide Schädel, in kleinen Nischen versteckt. »Das ist keine Dekoration«, erklärte er. »Er sammelt Souvenirs.«
Er ließ den Strahl seiner Lampe durch den Raum wandern, und dieses Mal hielt er bei der antiken Statue in der Mitte des Springbrunnens inne. Sie hatte einen klassischen Kopf, von Apollo oder Narziss oder dergleichen, Beth könnte ihn sicherlich eindeutig benennen. Der Rest der Statue jedoch war unter einem lose drapierten roten Tuch verborgen. Carter ging näher heran und stellte fest, dass es sich um einen langen roten Wildledermantel handelte.