»Ihr werdet geboren«, sagte die Stimme, »und schreit.«
Carter wirbelte herum. Im tiefsten Schatten unter einem Vorsprung hockte Arius auf einem uralten Heuballen. Sein nackter Körper strahlte im Moment kein Licht ab. Rein und weiß saß er vollkommen reglos da.
»Ihr lebt in Angst.« Seine Stimme war grabesdunkel und seltsam schwermütig.
Langsam schob Carter sich zwischen Beth und den Engel.
»Und ihr sterbt voller Furcht.«
Beth kauerte sich an der Wand unter den Werkzeugen zusammen.
»Aber so müsste es nicht sein.« In der Finsternis unter den Dachsparren war der Engel kaum zu erkennen. »Hätte es nie sein müssen.«
So sehr es Carter auch widerstrebte, den Blick von der reglosen Gestalt abzuwenden, er musste sich nach irgendeiner Art Waffe umschauen. Nach irgendeiner Möglichkeit, zu entkommen. Aber was für ein Entkommen konnte das schon sein? Die Leiter würden sie niemals erreichen, und ein Sprung vom Heuboden aus auf den harten Boden draußen könnte sie glatt umbringen.
»Wir waren eure Freunde«, psalmodierte der Engel, »und wir könnten es wieder werden.«
»Nein, das könnt ihr nicht«, sagte Beth, und als Carter sich umdrehte, sah er, dass sie die alte Heugabel von der Wand genommen hatte und sie gegen ihren eigenen Bauch hielt. »Ich weiß, was du willst, und ich werde mich eher selbst töten, als dass ich das zulasse.«
»Beth!«, schrie Carter, entsetzt von ihrem wilden Gesichtsausdruck. »Leg das Ding weg!« Er griff nach der Gabel, aber Beth schwang plötzlich herum, um ihn abzuwehren und traf dabei aus Versehen seine Hand. »Nein, Carter. Ich meine es ernst!«
Während Carter seine verletzte Hand umklammerte, erfasste ihn eine plötzliche Brise, frisch und nach Wald riechend. Ein schwaches goldenes Licht erfüllte den Heuboden. Klappernd schlug die Heugabel auf dem Holzboden auf.
Arius leuchtete und zerrte Beth an einem Arm mit sich.
Wie ist er dorthin gekommen?
Er hielt auf die Rückseite des Bodens zu. Carter traute seinen Augen und seinem Verstand kaum, als er sah, wie sich zwischen Arius’ Schulterblättern ein Paar Flügel entfaltete.
Doch es waren nicht die glatten und gefiederten Flügel eines Vogels. Was sich da hoch über dem Kopf des Engels berührte, waren ledrige fledermausartige Schwingen, die Carter unwillkürlich an einen Pterodactylus denken ließ.
»Nein!«, schrie Beth und befreite sich windend aus seinem Griff. Der Engel drehte sich zu ihr um, aber es war zu spät. An der Kante des Heubodens schwankte sie kurz, ehe sie schreiend auf den Boden darunter stürzte.
»Beth!«, rief Carter, und ehe der Engel reagieren konnte, hatte er die Heugabel aufgehoben und sie ihm in den Rücken gerammt. Eine der rostigen Zinken durchbohrte den Engel an der Seite.
Aber das war es auch schon. Im nächsten Moment klappten die großen Schwingen nach vorn, und Carter fühlte sich in Arius’ Umarmung gefangen, wie ein hilfloses Tier in den Windungen einer Boa constrictor.
Je mehr er zappelte und sich wand, desto enger schlossen sich die Schwingen um ihn. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, und sobald er versuchte, Atem zu holen, drückte der Engel noch kräftiger zu und verhinderte es.
Er dachte an Beth und ihren Sturz …
Seine Lungen brannten und sein Herz verausgabte sich.
… und was sie über das Wasser gesagt hatte …
Sein Blickfeld begann bereits kleiner zu werden.
… und an die Schriftrolle … in der es hieß, das Blut der Menschen und das Blut der gefallenen Engel …
Winzige schwarze Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen.
… dürfe sich niemals vermischen …
Als er spürte, dass ein schwarzer Nebelschleier sich über ihn zu legen begann, zwang er sich, in der Umklammerung der Schwingen den Arm zu heben.
Seine Lungen kollabierten, sein Körper sackte zusammen.
Bis er die schartige Wunde fand, die von der Heugabel stammte, und dem Engel seine blutverkrustete Hand in die Seite presste.
Arius erschauderte, und der Griff des Engels lockerte sich ein winziges Stück.
Doch das genügte. Carter gelang es, einen halben Atemzug zu nehmen, dann kratzte er die Wunde an seiner Handfläche mit den Nägeln wieder auf, um das eingetrocknete Blut zu befeuchten. Frisches Blut rann aus der Wunde.
Arius stieß seinen Atem aus. Der Duft eines regennassen Waldes wurde überdeckt vom Geruch eines heißen Wüstenwindes.
Carter drückte seine blutende Hand noch kräftiger gegen die Wunde des Engels. Seine Schwingen erbebten, am Anfang nur ein wenig, doch schließlich unkontrollierbar. Die Umklammerung lockerte sich noch weiter.
Carter befreite sich, taumelte in die Ecke des Heubodens und krümmte sich keuchend.
Arius’ geöffnete Schwingen bebten. Er hielt den Blick nach oben gerichtet und stand da wie eine blendende Lichtsäule. Er brannte heller als je zuvor, doch er glich weniger einem Leuchtfeuer als vielmehr einem außer Kontrolle geratenen Brand. Hitzewellen wie von einem riesigen Hochofen ließen das alte Heu in einem knisternden Mahlstrom um seinen Leib herumwirbeln. Er taumelte auf die Rückseite des Bodens zu, konzentrierte noch einmal seine ganze Kraft und warf sich trotzig dem Nachthimmel entgegen, als wollte er ihn ein letztes Mal verfluchen.
Auf allen vieren kroch Carter zur Öffnung und sah, wie der Engel ein-, zwei-, dreimal mit den Flügeln schlug. Jedes Mal trugen sie ihn höher und weiter davon. Gleich lodernden Segeln schwangen sie über die kargen Felder, dem Mond und den Sternen entgegen. Das Licht, das von ihm ausging, wurde kleiner, schwächer, ferner, bis es schließlich vollkommen erlosch und nichts am Himmel zurückließ als einen Punkt, der dunkler und leerer zu sein schien, als alles um ihn herum.
Und dann war selbst er verschwunden.
Carter hockte auf dem offenen Heuboden, über sich nichts als den dunklen Nachthimmel. Unter ihm lag Beth auf einem Haufen aus verrottendem Heu und totem Laub und bewegte sich unter Schmerzen.
42. Kapitel
Sommer
»Unten gibt es eine Cafeteria, in der Sie einen Kaffee bekommen, wenn Sie möchten.«
Carter hob den Blick vom Fußboden und nickte der Krankenschwester in der Tür zu. »Danke, mir fehlt nichts.«
Sie schenkte ihm ein routinemäßiges Lächeln und verschwand. In der Ecke liefen im Fernsehen Nachrichten auf CNN mit leise gestelltem Ton. Der größte Teil des Landes litt unter einer Hitzewelle. Carter war allein im Raum, dem Wartebereich auf der Entbindungsstation des St. Vincent’s, der allein werdenden Vätern vorbehalten war. Und er wusste, warum.
In den letzten Monaten waren seine Sorge und Ungewissheit immer weiter angewachsen. Sobald sie erfahren hatten, dass Beth in der Tat schwanger war – »allen Widrigkeiten zum Trotz«, wie Dr. Weston ihnen wiederholt bestätigt hatte –, hatte Carter sich zunehmend grausigere Szenarien ausgemalt. Es war ihm fast unmöglich, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Aber jedes Mal, wenn er auch nur andeutete, dass etwas Schreckliches vor sich ging, dass er Gründe hatte zu glauben, das Baby könnte nicht auf normale Weise oder nicht gesund zur Welt kommen, wurde er mit einem nachsichtigen Lächeln oder einem Schulterklopfen abgespeist, dazu der eine oder andere Rat über das Lampenfieber beim ersten Mal und wie man darüber hinwegkäme.
Doch die Wochen vergingen, und seine Ängste wuchsen, bis schließlich die Chance, dass er bei der Geburt im Kreißsaal zugelassen würde, immer geringer wurden. Als Erster hatte Dr. Weston gewarnt, dass die Geburt möglicherweise »zu belastend« für ihn sein könnte, und schließlich hatte sogar Beth seine Hände ergriffen und ihm gesagt, dass ihr wohler dabei wäre, wenn er »in der Nähe, aber nicht im selben Raum« wäre. Sie hatte so getan, als sei es eine Frage des Anstands. »Ich will nicht, dass du mich schreien siehst, während meine Haare am Kopf kleben und meine Beine in der Luft hängen.« Aber er wusste, worum es wirklich ging. Er machte alle wahnsinnig.