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Der Bruder sah Lucas direkt in die Augen. Lucas riss sich zusammen, damit seine Augen nicht flackerten. »Danke für deine Hilfe«, sagte er. »Aber du kannst sicher sein, dass ich jeden Einzelnen, der verschwunden ist, finde, und ich finde auch heraus, wer dahintersteckt. «

Der Bruder lächelte und ging in Begleitung der beiden Wächter weiter.

»Armer Lucas«, sagte er mit einem leisen Seufzer. Dann blieb er stehen und drehte sich mit einem mitleidigen Blick zu Lucas um. »Musst du deine Schlacht mal wieder ganz allein austragen. Wo sind denn deine Freunde, Lucas? Wo sind die Menschen, für die du alles geopfert hast?«

Lucas schwieg.

»Was ist mit dem Mädchen, mit dem du verlobt warst?«, fuhr der Bruder fort und begann sich für das Thema zu erwärmen. »Sie hat deinem Bruder den Vorzug gegeben, nicht wahr? Deinem Bruder, der dich hier verrotten lässt, nach allem, was du für ihn getan hast. Vielleicht solltest du die Tatsachen akzeptieren, Lucas. Niemand braucht deine Hilfe. Niemand will die Freiheit, die du den Leuten unbedingt schenken willst.«

Lucas wollte etwas erwidern, aber er wurde durch das Geräusch von sich nähernden Schritten unterbrochen, die nur eines bedeuten konnten. Er drehte sich um und bereitete sich mental auf die Nachricht vor.

Es war Christopher, der Chef der Polizeigarde, das Gesicht kreidebleich. »Es wird schon wieder jemand vermisst«, stieß er hervor, und sein Keuchen verriet, dass er den ganzen Weg vom Polizeigebäude hierher gerannt war. »Gabrielle Marchant. Ich habe bereits einen Suchtrupp losgeschickt, aber …«

»Nichts aber«, meinte Lucas entschlossen und biss die Zähne aufeinander. »Wir werden jeden Winkel in der Stadt durchkämmen. Wir werden sie finden.«

Gabby stolperte, fiel hin und rappelte sich wieder auf. Die Straßen waren menschenleer, alle waren bei der Arbeit, und sie war jetzt sowieso schon viel zu weit weg. Sie hätte in ein Haus laufen können, in die Bäckerei, aber irgendwie war ihr klar, dass sie sie schnappen würden, bevor sie die Tür öffnen konnte. Deshalb musste sie aus dem Stadtzentrum ins umliegende Niemandsland fliehen. Ihre einzige Chance war, dass sie schneller war als ihre Verfolger. Sie konnte sie hinter sich hören. Sie hatte keine Ahnung, wie viele es waren oder wie sie aussahen. Sie wusste nur, dass sie hinter ihr her waren, wie Clara es vorausgesagt hatte. Sie wollten sie holen, wie sie schon die anderen geholt hatten.

Es hatte abstrus geklungen, was Clara gesagt hatte, so wie die Geschichten, die ihre Eltern ihr über die Welt vor der Gründung der Stadt erzählt hatten, über die Bösen, die außerhalb der Stadtmauer lebten, und über die tausend Gefahren, von denen sie ständig bedroht waren. Und obwohl sie die Furcht in Claras Augen und das Zittern in ihrer Stimme bemerkt hatte, hatte sie es nicht richtig verstanden. Clara hatte sie gewarnt. Sie hatte ihr gesagt, dass alle, die etwas wussten, verschwunden waren, dass die Fremden irgendwie davon erfuhren; dass sie alles vergessen musste, was Clara ihr erzählt hatte, und dass sie es keiner Menschenseele verraten durfte. Aber Gabby hatte nur gelächelt und genickt, weil Clara selbst nicht verschwunden war. Nach Gabbys Ansicht war das eine wesentliche Schwachstelle in der Geschichte.

Jetzt begriff sie, wie dumm sie gewesen war. Aber jetzt war es zu spät.

Nein, es war noch nicht zu spät. Es war nie zu spät.

Gabby holte tief Luft. Sie wusste, dass sie jedem entkommen konnte, wenn sie es versuchte. Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen. Wenn sie nur irgendwie über die Stadtmauer kommen könnte, dann würde sie einfach immer weiterrennen und ihre Verfolger würden aufgeben. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, und auf einmal blieb ihr fast das Herz stehen, als sie hinter sich das Laub rascheln hörte. Sie waren ihr dichter auf den Fersen, als sie gedacht hatte.

Mit angstgeweiteten Augen beschleunigte sie das Tempo. Sie war noch zu weit von der Stadtmauer entfernt. Sie überlegte, ob sie sich einfach auf den Boden fallen lassen und ihre Verfolger anflehen sollte …

Aber das hätte keinen Sinn. Flucht war ihre einzige Hoffnung. Angsterfüllt rannte sie in Richtung der Sümpfe auf die Mauer zu, die die Bewohner vor den Bösen beschützt hatte, die Mauer im Osten, die jetzt die einzige Chance war, ihren Verfolgern zu entkommen. Es war der einzige Abschnitt der Mauer, der nicht bewacht wurde, der einzige Abschnitt, wo ein Fluchtversuch gelingen könnte. Den Gedanken, dorthin zu laufen, wo die Wachen standen, und diese um Hilfe zu bitten, verwarf sie rasch wieder. Die Wachen hatten die anderen ja auch nicht beschützt. Wenn Clara recht hatte, mussten die Wächter die Fremden in die Stadt gelassen haben. Sie konnte niemandem trauen.

Gabby näherte sich jetzt der Mauer und sah das Tor. Wenn sie es doch nur bis dorthin schaffte, wenn sie diesen Ort doch nur verlassen könnte…

Vor ihr tauchte ein kleines baufälliges Haus auf, umgeben von Sumpfland. Das Haus des Torwächters. Sie stürzte darauf zu, hämmerte gegen die Tür und versuchte, den Riegel zu öffnen. Aber ihre Hände waren schweißnass, und sie war zu verzweifelt, um den Sinn und Zweck der Türklinke vor ihr zu verstehen. Sie schrie um Hilfe und begann zu zittern, als sie ihre Verfolger näher kommen hörte. Sie drehte sich um, und ihr stockte der Atem, als sie sie zum ersten Mal sah. Sie waren zu zweit und kamen lächelnd auf sie zu. Sie lachten über sie, über ihre Angst, ihr Entsetzen, lachten, weil sie nirgendwohin konnte, weil es vorbei war, weil sie gewonnen hatten … Gabby schloss die Augen und wartete.

5

Die Nachricht hatte sich rasch verbreitet und Männer und Frauen auf die Straße getrieben. Als Lucas ins Freie trat, kam es bereits zu Menschenansammlungen. Das Verschwinden der jungen Leute hatte den Menschen in der Stadt Angst gemacht. Die Mauer, die Regeln, die ganze Stadt gründete auf dem Bestreben, die Bürger vor dem Bösen zu beschützen. Die Tatsache, dass Jugendliche einfach aus der Stadt verschwanden, war nur schwer zu ertragen und erschütterte die Stadt in ihren Grundfesten.

Die Leute musterten Lucas argwöhnisch, als er in das Gedränge trat, aber keiner sagte ein Wort. Immerhin war er ihr Anführer, und trotz allem, was passiert war, war man ihm noch nicht mit offener Feindschaft begegnet, auch wenn er täglich damit rechnete. In gewisser Weise hatte er das dem Bruder zu verdanken; nicht weil der Bruder etwas dafür tat, sondern weil dieser ein Klima der Angst geschaffen hatte, das immer noch fortbestand. Das System war zwar seit einem Jahr abgeschaltet, aber die Bürger der Stadt hüteten sich noch immer, Fragen zu stellen oder etwas zu tun, was unter dem alten Regime als verdächtig angesehen wurde. Außerdem war Lucas ein A, war immer ein A gewesen. Obwohl er den Leuten ständig erklärte, dass Ränge nichts bedeuteten und dass man Menschen nicht auf diese Weise in Kategorien einteilen konnte, war er sich bewusst, dass sein früherer Rang ihn immer noch schützte und ihm eine Autorität verlieh, die er sonst nicht hätte. Dafür war er dankbar, auch wenn der Gedanke ihn belastete. Manchmal jedenfalls.

»Mit wem war sie zuletzt zusammen? Wer kennt sie? Wo sind ihre Freunde?« Lucas stellte dieselben Fragen, die schon früher gestellt worden waren, obwohl er wusste, was ihn erwartete: ausdruckslose Gesichter, sprachlose Teenager. Die Freunde und Bekannten der Verschwundenen waren unermüdlich vernommen worden, einzeln und gemeinsam, und alle hatten beteuert, dass sie nichts wüssten und nichts sagen könnten.

»Ihr habt sie gestern zuletzt gesehen?« Die Teenager sahen ihn verdutzt an, alle zuckten die Achseln und nickten. Sie hatten Angst. Natürlich. Jeder hatte Angst. »Und was dann?«

»Heute Morgen sind wir zur Arbeit gegangen, aber sie kam nicht«, sagte ein Mädchen.