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Enttäuscht erhob sich Thomas von seinem Stuhl. »Weil wir uns einig waren. Weil es eine großartige Idee ist. Und weil du einen Vertrag unterschrieben hast«, erklärte Thomas mit ruhiger Stimme. Der Vertrag war ein Wagnis gewesen, aber der Junge hatte ihn bereitwillig unterschrieben, nachdem Thomas ihm den Zugang zum gesamten Infotec-Server versprochen und ihm volle Handlungsfreiheit zugesichert hatte. Wochenlang hatte er Ausreden erfunden, wenn der Junge Mist baute, und den Kopf für ihn hingehalten, und das hatte er nicht aus reiner Herzensgüte getan.

Der Junge schien das nicht vergessen zu haben. »Ich weiß«, erwiderte er. »Aber wie gesagt, es funktioniert nicht. Bis später.«

Der Junge stand auf. Thomas musste sich beherrschen, um ihn nicht wieder auf den Stuhl zu drücken.

»Okay«, sagte er stattdessen und versperrte ihm den Weg, um etwas Zeit zu gewinnen und um Luft zu holen. »Warum funktioniert es nicht? Oder besser gesagt: Unter welchen Bedingungen würde es funktionieren?«

»Unter gar keinen Bedingungen. Jedenfalls nicht in der realen Welt“, meinte der Junge geringschätzig.

»Und in der nicht realen Welt?«, bohrte Thomas mit einem Funken Hoffnung weiter. »Was wäre da?«

»Willst du das wirklich wissen?«, fragte der Junge. Sein Interesse war geweckt.

»Ja.« Thomas nickte.

»Okay.« Der Junge ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und drehte Däumchen. »Also, zuerst bräuchte man eine kleinere Population, weil man klein anfangen muss. Sie muss organisch wachsen, verstehst du? Und es bringt nichts, nur eine Kontrollgruppe auszuwählen, weil das wegen den vielen anderen Verbindungen und Netzwerken nicht funktionieren würde. Am besten wäre eine einsame Insel. Ein Dorf auf einer einsamen Insel mit ein paar Hundert oder vielleicht ein paar Tausend Menschen.«

»Weiter«, sagte Thomas.

Der Junge dachte einen Moment lang nach. »Alle müssten damit einverstanden sein, dass sie Tag und Nacht überwacht werden, damit wir Diskussionen über Politik oder Bürgerrechte und Unstimmigkeiten vermeiden, denn das wäre das Ende.«

»Verstehe«, sagte Thomas. »Und was noch?«

Der Junge lachte. »Reicht das noch nicht? Sieh mal, das wird nie funktionieren und es wird nie passieren.«

»Was noch?«, wiederholte Thomas, und seine Stimme klang angespannt.

Der Junge lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als würde er ein Sonnenbad nehmen. Thomas rechnete fast damit, dass er gleich die Füße auf den Schreibtisch legen würde, direkt auf die Tastatur.

»Sie müssen es wollen«, sagte der Junge schließlich mit einem Achselzucken. »Sie müssen es wirklich wollen. Es geht darum, was die Menschen glauben, nicht, was real ist. Man kann das tollste System haben und den Menschen ein tolles Leben bieten, aber wenn sie denken, dass ihnen alles aufgezwungen wird, werden sie es hassen. Aber wenn sie etwas selber wollen und man gibt es ihnen … Na ja, das ist was ganz anderes.« Er stand auf. »Also, danke erst mal.«

Er streckte die Hand aus und Thomas schüttelte sie. »Wirst du das Programm in Angriff nehmen, wenn diese Bedingungen erfüllt sind? Wird es dann funktionieren? Steht unser Vertrag noch?«

»Klar.« Der Junge grinste. »Du machst das Unmögliche möglich, und ich werde tun, was du willst«, meinte er beim Hinausgehen.

1

»Morgen.« Evie sah hoch. Neben ihr stand Raffy mit zwei Tassen heißem Tee. Hastig setzte sie sich auf und nahm ihm eine Tasse ab. »Wie spät ist es?«, murmelte sie.

»Es ist noch früh«, sagte Raffy und legte sich wieder ins Bett. »Ich konnte nicht schlafen.«

Evie machte ihm ein bisschen Platz und trank einen Schluck Tee. »Wie früh?«

»Halb fünf.«

Eine halbe Stunde vor der üblichen Weckzeit. Evie versuchte die Augen ganz aufzumachen, aber sie gehorchten ihr nicht. Deshalb stellte sie die Tasse weg, schloss die Augen wieder und ließ den Kopf auf das Kissen fallen.

»Wird ein aufregender Tag heute. Wir haben Anprobe«, sagte Raffy. Er rückte näher und beugte sich über sie. Evie wusste, dass er jetzt erwartete, dass sie die Augen aufmachte, deshalb öffnete sie sie und lächelte gezwungen, dann schloss sie die Augen wieder.

Anprobe für ihr Kleid und für seinen Anzug. Nächste Woche sollte ihre Begrüßungszeremonie stattfinden, ihre offizielle Aufnahme in die Siedlung.

Und gleichzeitig sollte es ihr Hochzeitstag sein.

»Du wirkst gar nicht aufgeregt.«

Evie sah Raffy besorgt an, aber im selben Moment merkte sie, dass er nur einen Scherz machen und sie aufziehen wollte.

»Natürlich bin ich aufgeregt«, sagte sie und zwang sich wieder, zu lächeln, ein unbeschwertes Gesicht zu machen. Schließlich war sie tatsächlich aufgeregt. Jedes Mal, wenn Raffy die Hochzeit erwähnte, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Aufregung, Angst; das war so ziemlich dasselbe.

Sie schloss kurz die Augen. »Das wird bestimmt toll.«

»Nicht wahr?«, flüsterte Raffy, rollte sich auf die Seite, stieg aus dem Bett und grinste. »So richtig verheiratet. Hättest du dir das damals in der Stadt je träumen lassen?«

Evie wollte ihm erklären, dass sie eigentlich die offizielle Aufnahme in die Siedlung gemeint hatte, schwieg dann aber lieber. Natürlich hätte sie an die Heirat denken sollen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Irgendetwas lief total falsch, und sie musste Raffy schützen, auch wenn sie sich selbst nicht schützen konnte.

Sie lebten jetzt ungefähr ein Jahr hier. Nachdem sie die Stadt endgültig verlassen und das System zerstört hatten, das ihr Leben kaputt gemacht hatte, waren sie nach Base Camp zurückgekehrt, wo Linus und dessen Freunde lebten, aber nach ein paar Tagen hatte Linus ihnen erklärt, dass sie sich jetzt einen eigenen Platz zum Leben suchen müssten, dass Base Camp nur eine vorübergehende Bleibe sei und dass sie irgendwo ein richtiges Zuhause finden müssten. Zunächst hatte Evie sich geweigert, das hinzunehmen, sie hatte Linus beschimpft und ihm erklärt, dass sie zusammenbleiben müssten, dass sie hier eine neue Familie gefunden habe und dass sie diese nicht verlieren wollte. Aber Linus hatte nur gelächelt und ihr mit einem entwaffnenden Augenzwinkern von der Siedlung erzählt, einem Ort, an dem er noch nie gewesen war, aber über den er großartige Dinge gehört hatte, von einer Gemeinschaft aus lauter guten Menschen, wo sie leben könnten.

Schließlich hatte Evie zugestimmt, nicht weil sie in diese Siedlung wollte, sondern weil sie begriffen hatte, dass für Linus hier Schluss war; die Schlacht war gewonnen. Er musste weiterziehen und die anderen verlassen. Linus war anders als alle Menschen, die sie kannte. Er war klug, knallhart, verschlossen, er hatte die Stadt mitbegründet und aus dem Nichts das System aufgebaut, als wohltätige Kraft, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und dafür zu sorgen, dass alle glücklich waren. Doch das System war verfälscht worden, der Bruder hatte die Kontrolle übernommen, und aus Angst um sein Leben war Linus geflohen und hatte eine Basis errichtet, von der aus er heimlich mit der Stadt kommunizierte und wo er auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um das System ein für alle Mal zu deaktivieren und das Ungeheuer zu töten, das er ungewollt erschaffen hatte.

Jetzt war seine Aufgabe erledigt und Linus brauchte Base Camp nicht mehr. Evie sah ein, dass sie und Raffy gehen mussten, denn bald würden alle fort sein und sie stünden vor dem Nichts.

Deshalb waren sie in die Siedlung gekommen, mit einer Botschaft von Linus an Benjamin, den Anführer, den Linus in den Anfangstagen der Stadt kurz kennengelernt hatte, einen Mann mit gütigen Augen, und das genügte Linus offenbar, um sich ein Urteil über die gesamte Siedlung zu bilden.