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Und er hatte wie immer recht gehabt.

Die Siedlung war eine Gemeinschaft, die Benjamin vor zwanzig Jahren gegründet hatte. Laut Stern, seinem Stellvertreter, der Evie und Raffy nach ihrer Ankunft herumgeführt hatte, war es am Anfang nur eine kleine Zeltstadt gewesen, aber mit den Jahren war sie immer weiter gewachsen. Mittlerweile standen auf einer ausgedehnten Fläche Häuser und Farmen, und die Menschen dort arbeiteten nicht, weil ein System es ihnen vorschrieb, sondern weil sie es wollten und weil es die Voraussetzung war, damit sie hier leben konnten.

Denn hier war das Leben härter als in der Stadt, hatte Stern ihnen erklärt. Wenn die Menschen das Land nicht bewirtschafteten, gab es nichts zu essen; und die Fundamente für die Gebäude mussten sie selbst graben. Hier gab es keine Computer, keine Regierungsjobs und keine Läden; es gab nur einen Markt, auf dem Tauschhandel betrieben wurde, und die Tage waren ausgefüllt mit harter Arbeit.

Stern hatte Evie und Raffy nachdenklich angesehen, als würde er darauf warten, dass sie etwas sagten. Aber sie hatten beide geschwiegen, weil Benjamin gerade vorbeigegangen war, Benjamin, dessen Name stets voller Ehrfurcht ausgesprochen wurde und dessen Gegenwart schon zu spüren war, noch bevor er einen Raum betrat.

In der Siedlung war Benjamin so etwas wie ein Gott; seine Geschichte hatte etwas von einem Mythos, von einer Legende. Er war ein Kämpfer, der sich von der Schreckenszeit nicht unterkriegen lassen wollte, der weiterkämpfte, der strebte, motivierte, führte, der die Siedlung gründete als Lohn für diejenigen, die ihm beigestanden hatten, der von den Menschen nur das Beste dachte und der, weil er an sie glaubte, in der Regel auch nicht enttäuscht wurde. Keiner wusste, woher Benjamin kam oder wie er vor der Schreckenszeit gelebt hatte. Natürlich gab es Gerüchte: er sei Soldat, Priester, Sportler, Politiker gewesen. Aber Benjamin sprach nie über die Vergangenheit. Er und Stern hatten gemeinsam die Schreckenszeit überlebt und beschlossen, aus den Trümmern etwas aufzubauen, was den Menschen wieder Hoffnung gab und eine Zukunft.

Und genau das hatte die Siedlung Evie und Raffy gegeben. Stern hatte recht gehabt, als er sagte, dass die Tage in der Siedlung mit harter Arbeit ausgefüllt seien, aber das Leben hier war nicht mühsamer als in der Stadt, jedenfalls nicht für Evie. Ihr kam es hier vor wie im Paradies; so weit weg von der Stadt mit all den Vorschriften und Restriktionen, dass sie kaum glauben konnte, dass sie sich noch auf demselben Planeten befand.

Und das alles hatten sie Benjamin zu verdanken.

»Ah, endlich lernen wir uns kennen.«

Evie spürte immer noch, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, wenn sie an ihre erste Begegnung mit Benjamin dachte. Eine Woche nach ihrer Ankunft in der Siedlung war Stern bei ihnen aufgetaucht und hatte sie aufgefordert, ihm zu folgen. Als Benjamin sie zu seiner Privatunterkunft führte, hatte ihr Herz schneller geschlagen und sie hatte Raffys aufrechte Haltung und seine leicht geweiteten Augen bemerkt; auch er hatte begriffen, was da gerade vor sich ging und zu wem sie gebracht wurden. Zuvor hatte Raffy noch versucht, die Sache mit der Beurteilung herunterzuspielen, und Evie erklärt, die Siedlungsgemeinschaft müsse sie genauso einschätzen, wie sie selbst die Siedlung einschätzen müssten, aber wie er jetzt so schweigsam hinter Stern her trottete, wurde ihr klar, dass ihm diese Begegnung ebenso viel bedeutete wie ihr. Seit sie hierhergekommen waren, hatte Raffy sich verändert; diesmal schien es ihm wirklich darum zu gehen, dass er einen guten Eindruck machte und dass er akzeptiert wurde.

Als sie Benjamins Zimmer betraten, ließ Evie den Blick umherschweifen und nahm alles in sich auf: die spärlichen Sitzgelegenheiten, die wenigen Einrichtungsgegenstände und die Schlichtheit des Raumes. »Nun«, hatte Benjamin gefragt, »wie gefällt euch unsere Siedlung?«

Evie blickte zu ihm auf. Er war doppelt so groß wie Raffy und breitschultrig, ein Mann wie ein Baum. Und obwohl er ein langes Gewand aus Sackleinen trug, verriet die Art, wie er sich bewegte, dass er stark und muskulös war, ein Mann, mit dem man sich lieber nicht anlegte. Aber er hatte freundliche Augen und ein ehrliches Gesicht. Evie wusste sofort, dass sie alles tun würde, damit er sie gernhatte, damit er sie beide gernhatte und damit sie hierbleiben durften.

Beide nickten eifrig.

Benjamin lächelte. »Wisst ihr, als wir mit dem Bau dieser Siedlung angefangen haben, war ich sehr wütend. Wütend über das, was passiert war, über die Zerstörung, die Verwüstungen, die die Schreckenszeit angerichtet hatte. Aber ich erkannte, dass Wut selbst eine destruktive Kraft ist und dass ich sie überwinden musste, wenn wir einen wirklich guten Ort zum Leben aufbauen wollten.«

Er sah erst Raffy an, dann Evie, und beide wurden blass. Es war, als würde Benjamin tief in ihr Inneres blicken und die Wut, die Enttäuschung und den Groll darin entdecken.

Evie wollte Benjamin gerade versichern, dass auch sie bereit seien, ihre Wut zu vergessen, aber zu ihrem Erstaunen ergriff Raffy als Erster das Wort. »Wut dient einem Zweck, wenn sie sich gegen etwas richtet«, sagte er und trat einen Schritt vor. »Jetzt sind wir bereit, unsere Wut zu vergessen. Wir wollen glücklich sein. Wir wollen hier sein.«

Evie hörte Raffy mit offenem Mund zu, weil sie ihn noch nie so ernst erlebt hatte: kein sarkastischer Unterton, kein vielsagender Blick. Er spürte ihren Blick und drehte sich zu ihr um. Ein tiefes Glücksgefühl stieg in Evie auf, denn zum ersten Mal wirkte Raffy so, als hätte er seinen Weg gefunden. Er machte keinen gequälten Eindruck, er war nicht wütend oder düster. Stattdessen war seine Miene entschlossen und konzentriert, und das war ansteckend.

Benjamin lächelte erneut. »Freut mich zu hören. Seht ihr, wir sind dabei, uns hier ein neues Leben, eine neue Zukunft aufzubauen. Die Vergangenheit ist woanders. Eure, meine, unser aller Vergangenheit. Wir können sie nicht ungeschehen machen, aber wir müssen uns auch nicht länger damit aufhalten. Wir können aus dem Geschehenen lernen und wir können weitermachen und in die Zukunft blicken. Aus dem schlimmsten Schmerz kann Stärke erwachsen, aus Leiden Entschlossenheit, aus Verzweiflung Liebe und Gemeinschaft. Und das haben wir hier. Gemeinschaft. Einen Ort, der denen gehört, die dort leben, der von ihnen regiert und organisiert wird. Ein Ort, wo jeder eine Funktion hat und wo jeder seinen Beitrag leistet. Hört sich das nach einem Ort an, wo ihr leben möchtet?«

»Ja«, sagte Raffy sofort, und Evie nickte.

»Gut«, meinte Benjamin. »Dann will ich euch jetzt ein bisschen über die Siedlung erzählen. Vor vielen Jahren gab es hier nicht viel. Aber der Fluss im Norden und die Hügel ringsherum haben uns Schutz geboten; ich wusste, dass das ein guter Platz für einen Neuanfang sein würde. Zuerst waren wir nur wenig Leute, ungefähr zehn Familien. Vor etwa dreißig Jahren haben wir die ersten Häuser gebaut und die ersten Felder bewirtschaftet. Wir wollten eine sichere, friedliche Gemeinschaft aufbauen, wo niemand Hunger leiden oder Angst haben musste. Aber vor allem wollte ich eine Siedlung errichten, wo die Menschen sich selbst verwirklichen, wo sie lernen und neue Dinge entdecken konnten und wo niemand an seiner Entfaltung gehindert wurde. Wo alle für die Kinder Verantwortung tragen, nicht nur deren Eltern. Wo jeder angespornt wurde, seine Aufgabe im Leben, seine Erfüllung zu finden. Das Leben ist nichts wert, wenn es nicht erfüllt ist, wenn wir keine Wertschätzung erfahren, stimmt’s?«

Evie nickte, aber wieder war es Raffy, der das Wort ergriff und ein lautes Ja vernehmen ließ. Und als Benjamin fortfuhr, bemerkte Evie mit Verwunderung, wie Raffy sich vor ihren Augen verwandelte, wie sein Zynismus einer blauäugigen Verehrung Platz machte. Er hatte Benjamins Worten gelauscht, fasziniert von dessen Geschichte und dessen Hoffnungen für die Siedlung und für deren Bewohner. Raffy hatte schweigend zugehört, ohne den Blick zu senken oder wie sonst von einem Fuß auf den anderen zu treten, und Benjamin mit großen Augen aufmerksam angesehen. Wie ein Hund, dachte Evie unwillkürlich. Wie die Hunde in der Stadt, die ihrem Herrchen auf Schritt und Tritt folgten, die ihm nie von der Seite wichen und geduldig auf etwas zu fressen warteten.