»Nun«, sagte Benjamin schließlich, nachdem er ihnen von der Gründung der Siedlung erzählt hatte, davon, dass alle gleich waren, und von der Zurück-zur-Natur-Philosophie, und dass er dafür sorgen wollte, dass alle genug Kleidung hatten und es keinem an Nahrung für Leib und Seele mangelte. »Was meint ihr, könnt ihr etwas beitragen zu unserer Gemeinschaft? Was bringt ihr beide in die Siedlung mit ein?«
Evie hatte besorgt zu Benjamin aufgesehen. Obwohl dies nicht die Stadt war und obwohl sie nicht mehr von dem System, von Rängen und von einer Mutter beherrscht wurde, die sie ständig kritisierte und zurechtwies, fiel es ihr dennoch schwer, ihre Angst vor denjenigen abzuschütteln, die Verantwortung trugen. »Wir werden hart arbeiten«, brachte sie schließlich heraus. »Wir sind geschickt. Ich kann nähen. Und wir sind entschlossen.«
»Das freut mich zu hören«, hatte Benjamin geantwortet und sich dann an Raffy gewandt. »Und was ist mit dir, junger Mann?«
In diesem Moment hatte Evie den Atem angehalten. Während sie schon immer Angst hatte vor denen, die Macht besaßen, hatte Raffy für solche Leute bisher nur Abscheu und Verachtung übriggehabt; wenn ihm in der Stadt so eine Frage gestellt worden war, hatte er immer eine patzige Antwort parat gehabt, die ihm oft irgendeine Strafe eingebracht hatte. Aber stattdessen trat Raffy wieder einen Schritt vor.
»Was wir mit einbringen?«, fragte er und sah Benjamin direkt in die Augen. »Wir bringen uns selbst mit ein. Voll und ganz.« Evie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, denn sie hatte Raffy noch nie so überzeugend reden hören.
Benjamin hatte gelacht, aber nicht unfreundlich. »Mehr kann ich nicht verlangen«, meinte er augenzwinkernd. »Dann bin ich froh, dass ihr euch uns anschließen wollt. Genau genommen freue ich mich immer, wenn junge Leute in unsere Siedlung kommen, weil wir die Jugend hier brauchen; wir brauchen eure Energie, eure Ideen. Aber wir brauchen auch die nächste Generation. Habt ihr beide vor, zu heiraten und Kinder zu bekommen?«
Evie hatte zu Raffy hinübergesehen, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, aber er war nicht so zurückhaltend. »Ja, natürlich«, hatte er sofort geantwortet.
Wenn es eine Gelegenheit für Evie gegeben hatte, einzugreifen und zu erklären, dass eigentlich noch nichts entschieden war, dann hatte sie sie verpasst. Und jetzt war es zu spät. Denn wenn sie Raffy widersprochen hätte, würde das bedeuten, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte – kein guter Anfang für zwei Menschen, die in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollten.
Und außerdem liebte sie Raffy. Sie hatte ihn schon immer geliebt und sie wollte ihn heiraten.
Oder?
Evie öffnete die Augen. Sie waren in ihrem Schlafzimmer und Raffy sah sie immer noch an. Dunkle Locken umrahmten sein Gesicht. Er grinste. »Warte nur, bis uns alle an unserem Hochzeitstag sehen«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Warte nur, bis allen ein für alle Mal klar ist, dass du mein bist.«
Evie atmete tief aus. Auch wenn sie sich bemühte, sie konnte ihm das nicht durchgehen lassen. »Raffy«, sagte sie in einem wohlüberlegten, achtsamen Ton, den sie in letzter Zeit oft anschlug. »Raffy, ich wünschte, du würdest nicht so sprechen. Als wäre ich dein Eigentum …«
»Ich weiß«, erwiderte er schnell und sah sie mit einem treuherzigen Hundeblick an. »Es tut mir leid. Aber ich kann nichts dafür. Ich möchte dir gehören und du sollst mein sein. Und alle sollen es wissen.«
Er sah so ernst aus, dass Evie dahinschmolz. »Das werden sie auch«, versprach sie. »Wir werden einander ganz gehören.«
Raffy lächelte. »Und dann wird dich kein anderer mehr ansehen«, sagte er leichthin. »Keiner wird dich mehr ansehen und sich Chancen bei dir ausrechnen.«
Evie starrte ihn an, alle zärtlichen Gefühle waren auf einmal verschwunden. »Keiner sieht mich an«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Keiner, Raffy. Diese Vorstellung ist nur in deinem Kopf.«
Raffy blickte sie ungläubig an. »Du weißt ja gar nicht, wie schön du bist.« Er setzte sich aufs Bett und sah ihr beim Anziehen zu. »Du hast ja keine Ahnung, wie die Männer sind.«
Evie antwortete nicht. Stattdessen ging sie zu dem kleinen Badezimmer, das sie sich mit vier anderen Paaren teilten, mit denen sie oft zusammen aßen, redeten und lachten. Zumindest Evie. Vor allem mit den Mädchen. Wenn sie mit deren Partnern sprach und Raffy war nicht dabei und wenn er es später herausfand, wurde er wütend. In der Stadt hatte das System sie auf Schritt und Tritt überwacht, aber inzwischen hatte Evie den Eindruck, dass Raffy jetzt die Aufgabe übernommen hatte, sie zu überwachen, zu kontrollieren, mit wem sie gesprochen und wer versehentlich ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Obwohl seine Eifersucht nervenaufreibend, frustrierend und einengend war, wusste Evie, dass es nicht seine Schuld war. Es war ihre Schuld. Denn vor einem Jahr, an einem Tag, an dem ihre Welt zerbrochen war, an dem Tag, an dem sie und Raffy geflohen waren, hatte sie Lucas, Raffys Bruder, geküsst. Sie hatte Raffy von dem Kuss erzählt in der Hoffnung, er könnte ihr verzeihen oder sie vielleicht sogar verstehen. Aber das konnte er nicht. Und seit damals hatte er sie nicht mehr aus den Augen gelassen.
Ein paar Minuten später kam Evie zurück ins Schlafzimmer, mit dem festen Vorsatz, heute alles besser zu machen, Raffy nicht zu reizen und ihm keinen Grund zur Eifersucht zu geben.
Ihr Zimmer war eines von vielen in einem niedrigen einstöckigen Gebäude, in dem fast hundert Menschen untergebracht waren und wo die Räume je nach Platzbedarf verteilt wurden. Ihr Zimmer war nur mit einem Bett, einem Stuhl, einem Schreibtisch und einem Bücherregal ausgestattet. Am Ende des Korridors befand sich die Dusche, die sie sich mit den anderen Paaren teilten. Die viereckige Rasenfläche hinter dem Haus durften alle Bewohner benutzen. Ringsherum lagen zugeteilte Parzellen, auf denen Obst und Gemüse angepflanzt werden konnten, um die wöchentliche Ration der Siedlung aufzubessern; in einigen Gärten wurden jedoch nur Blumen gepflanzt, weil, wie Benjamin zu sagen pflegte, Nahrung für die Seele genauso wichtig war wie Nahrung für den Körper.
»Was arbeitest du heute?«, fragte Evie.
»Ich helfe auf einem der etwas abgelegenen Felder beim Pflügen«, erwiderte Raffy und gähnte, »obwohl meine Schultern höllisch wehtun.« Evie drehte sich um und sah auf Raffys Schultern: Sie waren breit und die Muskeln spielten unter der Haut, ganz anders als noch vor einem Jahr. Offenbar war Raffy hier in der Siedlung plötzlich ein Mann geworden. Er war auch größer, aber seine breite Figur beeindruckte Evie am meisten. Sie passte zu ihm, genauso wie das sonnengebräunte Gesicht, das von widerspenstigen, zerzausten Haaren umrahmt wurde, die er sich nicht schneiden lassen wollte. Die harte Arbeit tut ihm gut und das Lachen und Herumalbern mit den Kollegen, dachte Evie. Jeden Abend kam er voller Schwung heim, auch wenn er sich dann gleich erschöpft aufs Bett fallen ließ.
Davon hatte sie immer geträumt, als sie noch in der Stadt lebten, wo selbst eine harmlose Unterhaltung als schlimmes Verbrechen angesehen wurde. Hier konnten sie und Raffy Hand in Hand die Straße entlangschlendern, ohne dass jemand darüber Meldung machte, sie anstarrte oder ihnen sagte, wie verkommen sie seien.