Weizman war die Ereignisse mehrmals persönlich durchgegangen und hatte zwei Leute gefeuert. Aber das half ihm jetzt auch nichts.
Der Mann vor dem Computer stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte müde den Kopf.
»Sie erschweren mir die Sache ganz erheblich«, sagte er. »Wie Sie wissen, traue ich den Leuten durchaus etwas zu, aber sie kriegen es nie hin. Nie.« Er seufzte wieder. »Zum Glück bin ich Ihnen und denen ein paar Schritte voraus. Zum Glück weiß ich, wo sie hinwollen, und bin darauf vorbereitet. Aber lassen Sie sich das eine Lehre sein. Verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte Mr Weizman.
Sein Boss stutzte, als wäre er überrascht, ihn noch auf seinem Schirm zu sehen. »Ich bin fertig mit Ihnen «, erklärte er schroff, und der Bildschirm wurde dunkel.
Mr. Weizman drehte sich langsam um und verließ das Zimmer. Er brauchte jetzt einen Drink.
30
Der Bruder schritt gemächlich auf das Gemeinschaftshaus zu, wo neben Versammlungen auch die wöchentlichen Predigten stattfanden, von denen die Bürger der Stadt immer ganz begeistert waren. Als er an den Mitgliedern seiner Gemeinde vorbeiging, genoss er die bewundernden Blicke und das Raunen, das durch die Menge ging. Das war seine Gemeinde – schon immer. Er hatte ein Jahr in der Wildnis verbracht; man hatte ihm die Flügel gestutzt, und er hatte so tun müssen, als hätte er seine Fehler eingesehen und als wäre er Lucas dankbar.
Dankbar? Er verachtete Lucas. Noch nie im Leben hatte er jemanden so gehasst. Lucas war ein Verräter, er manipulierte, und er war verschlossen, ein Verräter, der … Der Bruder schüttelte voller Abscheu den Kopf. Er konnte nicht einmal beschreiben, was aus Lucas geworden war. Lucas, der sich nach außen so stark und kompromisslos gegeben hatte, war die ganze Zeit ein erbärmlicher, wehleidiger Ideologe gewesen. Genau wie sein Vater.
Aber jetzt war er fort. Und falls er jemals versuchen sollte, zurückzukommen, würde es ihm noch leidtun. Er würde in der Stadt keinen Tag überleben, wenn der Bruder mit ihm fertig war.
Vor dem Versammlungshaus blieb der Bruder kurz stehen und sah voller Freude an dem Gebäude hinauf. Er war erleichtert, dass er wieder da war. Die Versammlungen waren seine Lieblingsveranstaltungen in der Stadt gewesen, die er mitgestaltet hatte. Die wöchentliche Versammlung hatte ihm eine Plattform geboten, eine Möglichkeit, alle daran zu erinnern, wie glücklich sie sich schätzen konnten und wie wichtig es war, sie vor dem Bösen zu schützen, das sich nur allzu leicht ausbreitete, wenn es Gelegenheit dazu bekam. Alle hatten stets den ihrem Rang entsprechenden Platz eingenommen – ein öffentliches Forum, wenn es darum ging, die verschiedenen Ranggruppen zu beobachten. Der Bruder hatte das geliebt: die verächtlichen Blicke der As, wenn sie die jämmerliche Gruppe der Ds betrachteten; wie die Bs den Kopf hoch trugen, während sie neidische Blicke in Richtung der As warfen; und dann waren da die Cs, die sich an ihre Ehrbarkeit klammerten und so große Angst hatten, zu Ds herabgestuft zu werden, dass sie diese kaum ansahen, um ihren Ruf nicht zu beflecken. Teile und herrsche – lautete so nicht eine Redensart? Und es stimmte. Schlicht und einfach.
Die Menschen wollten einen vorgegebenen Platz im Leben einnehmen und ihn sich nicht selbst aussuchen, wie Lucas das vorgesehen hatte. Zum Glück hatte Lucas nicht den Mumm gehabt, die Stadt zu führen, und er war kläglich gescheitert, sodass es für den Bruder ganz einfach war, alles wieder ins Lot zu bringen.
Der Bruder wusste nur zu gut, dass es nicht leicht war, ein Anführer zu sein. Man musste Opfer bringen, es kostete Zeit und Mühe. Man musste ständig auf der Hut sein, war ständig Gefahren ausgesetzt und musste sich ständig neue Möglichkeiten ausdenken, um die Menschen zu manipulieren, sie zu überreden, zu begeistern und ihnen unterschwellig zu drohen. Der Bruder hatte schon vor vielen Jahren gelernt, dass die Menschen wie Schafe waren. Sie ließen sich gern führen. Aber wenn man dabei nicht energisch genug war und nicht die absolute Kontrolle behielt, konnte es sein, dass ein Schaf aus der Herde ausscherte und andere ihm blind folgten.
Natürlich sah das nicht jeder so. Lucas war der Ansicht, dass die Menschen es begrüßen würden, wenn er ihnen Freiheit bot, und dass sie ihn dafür respektieren würden. Aber die Menschen wollten keine Freiheit, sie wollten Regeln und Vorschriften und eine Struktur. Warum hätten sich die Menschen sonst so viele Jahre an die Religion klammern sollen? Warum hätten Diktatoren sonst im Lauf der Geschichte so großen Erfolg gehabt? Die Menschen wollten keine Freiheit, sie wussten einfach nichts damit anzufangen. Sie wollten bloß den Schein von Freiheit; sie wollten ein Gerüst, das ihnen vorgab, wie sie sich zu verhalten hatten, in dem die Bösen bestraft wurden und das allen anderen das Gefühl von Sicherheit gab, und im Gegenzug ignorierten sie sämtliche Logiklücken im System, sämtliche Widersprüche und sämtliche unerfreulichen Fakten, mit denen sie sich nicht abgeben wollten. So hatte die Menschheit es schon immer gehalten und so würde es auch immer bleiben.
Der Bruder betrat das Versammlungshaus, schritt durch die Halle, begab sich hinauf zum Rednerpult und hob die Hände in die Höhe. Es wurde still im Saal.
»Meine Freunde, liebe Brüder und Schwestern«, begann der Bruder. »Es ist schön, euch alle hier zu sehen, wie immer. Lasst uns dafür danken.«
Zuerst ging nur ein Raunen durch die Menge, dann wurde es immer lauter, bis die Menschen schließlich in tosenden Beifall ausbrachen. Der Bruder lächelte, als alle fünftausend Einwohner der Stadt die Hände in die Höhe streckten und ihm laut zujubelten.
»Bruder!«
»Willkommen zurück, Bruder!«
»Lasst uns dafür danken!«
»Wir sind wieder sicher!«
Der Bruder ließ seine Gemeinde ein paar Minuten gewähren und sonnte sich in der Verehrung, die die Menschen ihm entgegenbrachten. Dann hob er erneut die Hände.
»Freunde«, sagte er nun mit ernster Stimme. »Freunde, ich bin gerührt von dem herzlichen Empfang und von eurer Begeisterung. Aber heute ist kein Tag zum Feiern. Heute ist ein Tag des Gedenkens an unsere Toten, an unsere Gefallenen. Wie ihr wisst, hat uns euer ehemaliger Anführer Lucas vor Kurzem verlassen. Er ist einfach aus der Stadt geflohen, die sich sein Leben lang um ihn gekümmert hat, und hat ein junges Mädchen mitgenommen. Clara, die letzte von den Verschwundenen. Wir wissen nicht, wo er sie hingebracht hat, und vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen. Denn als er ging, haben wir die Wahrheit herausgefunden – die Leichen vor der Stadtmauer, die Überreste der Verschwundenen. Lucas, liebe Brüder und Schwestern, ist für den Tod unserer jungen Leute verantwortlich. Lucas ist dem Bösen verfallen, Brüder und Schwestern, und es ist uns nicht gelungen, ihm zu helfen und das Böse zu besiegen. Wir haben ebenso große Schuld auf uns geladen wie er. Aber jetzt müssen wir zusammenstehen, jetzt müssen wir uns einig sein in unserem Bestreben, das Böse von dieser Stadt fernzuhalten. Aber lasst uns zuerst danken für alles, was wir haben, für diese Stadt, für einander, für unser Essen und für die Arbeit, die unseren Geist wachhält und unseren Körper stark macht.«
»Wir sagen alle Dank«, riefen alle voller Inbrunst.
Der Blick des Bruders fiel auf Claras Eltern. Die Augen noch immer blutunterlaufen, die Hände ineinander verschlungen, klammerten sie sich aneinander, um sich gegenseitig Halt zu geben. Der Bruder lächelte still vor sich hin.