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»Und?«, bohrte Lucas weiter, denn wenn er Linus nicht dazu ermunterte, würde der ihm nichts erzählen.

»Und ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, damit er weiß, dass wir kommen«, sagte Linus und machte ein verwirrtes Gesicht, als könnte er nicht verstehen, warum Lucas das alles nicht wusste … oder warum er es überhaupt wissen wollte.

»Gut«, lenkte Lucas ein. »Und was jetzt?«

»Jetzt?« Linus sah sich um und hielt die Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen. »Jetzt suchen wir uns einen Platz, wo wir warten können, bis man uns hineinlässt.« Und mit diesen Worten ging er davon. Lucas sah ihm eine Weile nach, stieß einen tiefen Seufzer aus und folgte ihm.

32

»Benjamin? Benjamin?« Benjamin schreckte hoch und einen Moment lang war er irgendwo anders. Einen Moment lang versetzte ihn der Klang von Sterns Stimme viele Jahre zurück in eine Gefängniszelle, eine Zelle, die sich die beiden Männer manchmal dreiundzwanzig Stunden am Tag geteilt hatten, wo sie sich vorsichtig beäugten, ab und zu ein paar Worte wechselten, sich gegenseitig taxierten und wo sie ausknobelten, wer wohl wen besiegen würde, wenn es so weit käme, was eines Tages unweigerlich der Fall sein würde.

Drei Jahre lang hatten sie sich die Zelle geteilt, von den insgesamt zwanzig Jahren, zu denen Benjamin verurteilt worden war. Von dieser Zelle oder vom Freigelände aus hatten sie mitangesehen, wie um sie herum die Schreckenszeit losbrach. Als Benjamin verhaftet wurde, hatte sich die Gewalt in Bombenanschlägen gegen Kirchen und Moscheen, in Übergriffen auf Schwulenparaden, in Straßenschlachten geäußert, und es herrschte überall der Eindruck, dass das Chaos überhandnahm, dass es nicht mehr aufzuhalten war und dass Polizei und Armee nur Fangen spielten.

Aber das war nur der Anfang gewesen. Das, erkannte Benjamin später, waren die guten alten Zeiten gewesen.

Er erinnerte sich noch genau daran, wie ihm klar wurde, dass die Schreckenszeit niemals ein gutes Ende nehmen würde und dass die Zerstörung nicht aufzuhalten war, bis sie von selbst aufhörte, bis nichts mehr übrig war, was zerstört werden konnte. Es war ein ganz normaler Tag im Gefängnis gewesen: Küchenarbeit am Morgen, anschließend Mittagessen, dann Freizeit am Nachmittag. Benjamin hatte sich für das Ausbildungsprogramm eingetragen. Er hatte bereits die mittlere Reife abgeschlossen und bereitete sich nun auf das Abitur vor. Der Unterricht war hier weitaus besser als in der Schule; es gab kleinere Klassen, und die Leute hier wollten wirklich etwas lernen, auch wenn sie ab und zu frustriert waren und dieser Frust sich in Gewalt entlud, auch wenn manchmal die Wachen gerufen und Gefangene weggeschafft werden mussten, weil sie den Lehrer mit dem Messer bedroht hatten, weil er oder sie eine Arbeit rot durchgestrichen hatte. Benjamin hatte das Gefühl, dass er endlich etwas aus sich machte; dass er endlich erkannte, wer er war und was vielleicht aus ihm werden könnte.

Damals war die Armee bereits auf den Straßen in England und in großen Teilen von Europa präsent. Hauptsächlich wegen der Unruhen. Ursache für die Ausschreitungen war die Lebensmittelknappheit, die sich durch die Unruhen noch verschärfte, weil die Hälfte der Straßen gesperrt war und weil jedes Fahrzeug, das die Grenze passierte, mehrmals durchsucht werden musste. Und wer wollte schon etwas in dieses gottverdammte Land bringen? Selbst die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen luden die Lebensmittel an der Grenze ab und kehrten sofort wieder nach Hause zurück. Alle, die genug Geld hatten, hatten das Land bereits verlassen. Zurück blieben nur eine Handvoll Ärzte und Manager; diejenigen, die sich weigerten zu gehen, und diejenigen, die nicht weggehen konnten; die Terroristen, die sich gegenseitig umbrachten, und die randalierenden hungrigen Massen, die damit begonnen hatten, ganze Städte niederzubrennen. Und je schlimmer es wurde, desto weniger Nahrungsmittel konnten geliefert und verteilt werden. Es war ein Teufelskreis. Benjamin beobachtete das alles von einer relativ sicheren Warte aus, verfolgte die Nachrichten im Fernsehen und warf seinen Mitgefangenen einen strengen Blick zu, wenn sie ihm dabei im Weg waren oder zu viel Lärm machten. Einmal hatte die Regierung sogar in Erwägung gezogen, sämtliche Gefangenen freizulassen, um deren Unterhaltskosten zu sparen. Allerdings wurde der Plan wieder verworfen, da es unvernünftig gewesen wäre, noch zusätzlich Tausende von hartgesottenen Kriminellen auf die Straße zu lassen und die Stimmung noch mehr aufzuheizen. Und somit waren die Gefängnisse neben den Krankenhäusern und den Pflegeheimen die letzten Bastionen menschlicher Zivilisation, die bei der Nahrungsverteilung vorrangig behandelt wurden und die so sicher waren, dass viele Gefängnisbeamte mittlerweile auf den Korridoren schliefen und ihre Familie mitbrachten, um sie vor den Gefahren und vor den Randalierern da draußen in Sicherheit zu bringen.

Benjamin hatte schon ein paar Jahre im Gefängnis verbracht und sich in einer ganzen Reihe von Auseinandersetzungen bewährt. Er war sozusagen Teil des Establishments. Keiner wollte sich mit ihm anlegen. Und die meisten Gefangenen wollten alles über die Verwüstungen erfahren, denn schließlich war es ihre Welt, die da zerstört wurde, auch wenn sie jetzt nicht unmittelbar davon betroffen waren. Aber ihre Familien wurden getötet, von Terroristen, von Aufständischen, von Polizei oder Armee, die versuchten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Woche für Woche kamen neue schlechte Nachrichten, und so mancher Schrank ging durch wütende Fäuste zu Bruch.

Die Lage war schlimm, Benjamin wusste das nur zu gut. Aber an jenem Tag wurde ihm erst richtig bewusst, wie schlimm es war. An dem Tag begann er, den Sinn seiner harten Arbeit und der bestandenen Prüfungen in Zweifel zu ziehen. Weil er plötzlich erkannte, dass es sich nicht um ein kleines, örtlich begrenztes Feuer handelte, das schnell gelöscht werden konnte, sondern um einen riesigen Waldbrand, der so lange wüten würde, bis nichts mehr übrig war. Und ihm war klar, dass alle, die dem Feuer im Weg waren, sterben würden, es war nur eine Frage der Zeit. Es war klar, dass es zu Ende ging, es fragte sich nur, auf welche Weise: ob alle starben oder ob ein paar Menschen übrig blieben und ob es unter mehr oder weniger großen Qualen vor sich gehen würde.

Es war nur ein Interview gewesen. Das übliche Interview mit dem Premierminister nach einem traumatischen Ereignis, in dem er die jüngsten Gräueltaten verurteilte und wo er erklärte, dass die Völker der Welt solche Dinge nicht länger hinnehmen würden, dass das gemeine Volk den Kampf gegen diese Terroristen, diese Vandalen, diese Mörder aufnehmen würde, dass er auf der Seite des gemeinen Volkes stehe und dass er mehr Polizei und mehr Panzer auf die Straßen schicken werde. Die Reporterin hatte nur mit halbem Ohr zugehört, war ihm ins Wort gefallen und hatte erklärt, dass es noch eine weitere Stellungnahme gebe. Ein gewisser Pastor Hunt meldete sich zu Wort, und während er redete, bemerkte Benjamin, dass er das alles schon einmal gehört hatte, dass er die Predigt Wort für Wort kannte. Und als er genauer hinsah, entdeckte er das »I«-Abzeichen an dessen Revers. Als die Kamera zu der Reporterin zurückschwenkte, sah er, dass auch sie ein Abzeichen trug. In dem Moment war ihm klar geworden, dass es keine Hoffnung mehr gab, kein Zurück.

Während Benjamin sich ruhig das Interview ansah, hatte er gespürt, wie sich etwas in ihm veränderte, und auf einmal kam ihm die Erleuchtung. Er hatte das alles so satt – diese Wut, diese Gewalt –, das alles war wie eine Krankheit, die so weit fortgeschritten war, dass sie nicht mehr geheilt werden konnte. Benjamin schwor sich, dass, wenn er überlebte, wenn alles vorbei war, wenn das Feuer die Welt verwüstet hatte, er es besser machen würde. Er würde irgendwo, irgendwann einen besseren Ort schaffen, wo keine Gewalt mehr herrschte, wo die Menschen ohne Angst vor Übergriffen frei ihre Meinung äußern konnten, wo man ihnen zuhörte, sie ermutigte und förderte. Einen Ort, an dem er die Führung übernehmen würde, aber nicht an der Spitze, um den Leuten zu sagen, was sie tun sollten, sondern mitten unter ihnen.