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Benjamin hätte nie gedacht, dass sein Traum einmal Wirklichkeit werden würde, weil er überzeugt war, dass er angesichts der Zerstörung nicht mehr so lange leben würde. Aber an diesem Tag ging er gleich nach den Nachrichten zurück in seine Zelle, baute sich vor Stern auf, sah ihm direkt in die Augen und sagte etwas, was er bis heute nicht vergessen hatte. »Schlag mich, wenn du willst. Bringen wir es hinter uns. Das ist deine letzte Chance. Wenn du mir überlegen sein willst, musst du mich töten. Und wenn nicht, wirst du tun, was ich sage. Und ich sage, dass es keine Kämpfe, keine Gewalt mehr geben soll. Ich habe das alles satt. Ich schäme mich. Wir können entweder hier warten, bis alles vorbei ist, wir können uns in Stücke reißen wie wilde Tiere, oder wir können Stärke zeigen. Ich will stark sein. Ich will etwas Gutes schaffen. Ich will etwas Neues, etwas Besseres aufbauen. Also, schlag mich jetzt, oder hilf mir, etwas aufzubauen. Du hast die Wahl.«

Dann hatte er darauf gewartet, dass Stern seinen Schlag landete. Aber er tat es nicht. Stattdessen hatte er Benjamin die Hand hingestreckt. Er habe gerade erfahren, sagte er, dass sein Sohn tot sei. Er war das Einzige gewesen, was seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Sein Sohn war erst drei gewesen. Er hatte sich gerade vor einem Restaurant aufgehalten, als dieses in die Luft flog, und war durch herumfliegende Glassplitter lebensgefährlich verletzt worden. Er war zu spät in das überfüllte Krankenhaus gebracht und von den wenigen, völlig erschöpften und überarbeiteten Ärzten zu spät behandelt worden. Und jetzt war er tot.

Benjamin erinnerte sich an all das, als wäre es gestern gewesen, und doch schien es schon eine Ewigkeit her zu sein, so als wäre es nicht in seinem eigenen Leben passiert, sondern im Leben eines anderen, den er früher einmal gekannt hatte. Er öffnete das Fenster, trat hinaus in den Sonnenschein und atmete tief durch. Es war gut, noch am Leben zu sein, dachte er bei sich. Gut, zu diesem Ort des Wachstums, der Akzeptanz und des Neuanfangs zu gehören. Jeder brauchte manchmal einen Neuanfang. Jeder hatte eine zweite Chance verdient.

Benjamin ging ins Zentrum der Siedlung, vorbei an den Handwerkern, die Möbel für die ständig wachsende Bevölkerung herstellten, vorbei an den Bäckern, vorbei an der grasbedeckten Anhöhe, wo kleine Kinder spielten. Auf einmal blieb er stehen, denn aus der Näherei kam ein neues Mitglied der Siedlung in einem langen weißen Kleid, das ungefähr drei Nummern zu groß war. Benjamin lächelte, als er die Frauen um das junge Mädchen herumtänzeln sah und wie Sandra das Kleid hier und da absteckte, damit es Evie mit ihrer zierlichen Figur passte.

Als Evie aufblickte und ihn sah, musste Benjamin seine Tagträume unterbrechen. Er ging auf sie zu und meinte: »Evie, du wirst eine wunderschöne Braut abgeben. Und eine wundervolle Bürgerin.«

Evie lächelte, aber Benjamin bemerkte, dass ihr Lächeln nicht von Herzen kam.

»Danke«, sagte sie und wandte sich dann an Sandra. »Ich sollte es jetzt ausziehen.«

»Noch nicht«, schimpfte Sandra. »Ich muss es noch fertig abstecken. Du wirst immer dünner, Evie. Und du hast dich nicht genug gedreht. Wir wollen, dass du dich noch ein paarmal drehst, nicht wahr, Mädels?«

Die Frauen lachten und feuerten Evie an, und Evie drehte sich noch zweimal. Aber Benjamin fiel auf, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war.

»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte er. »Du steckst das Kleid fertig ab, Sandra, und anschließend gehen Evie und ich zum Mittagessen. Wie klingt das?«

Sandra nickte kurz und steckte in aller Eile das Kleid ab, bevor sie Evie in die Näherei zurückscheuchte. Sekunden später erschien Evie in ihrer normalen Kleidung und sah mit ernstem Gesicht zu Benjamin auf. So war das bei Benjamin; er machte einen Vorschlag, und noch bevor er darüber nachgedacht hatte, ob er gut war, war er auch schon ausgeführt. So etwas konnte einem schon zu Kopf steigen und einen berauschen. Benjamin wusste das nur allzu gut. Aber ihm war auch bewusst, dass die Macht, die er hatte, auch eine große Verpflichtung gegenüber den Menschen war. Sie waren keine Schafe, die ihm bedingungslos folgten, sondern er diente ihnen, denn ihnen hatte er alles zu verdanken.

Evie sah zu ihm auf und die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Benjamin lächelte. »Also, gehen wir? Heute ist so ein herrlicher Tag, findest du nicht auch?«

»Ja, herrlich«, stimmte Evie zu.

»Und bald wirst du ein Mitglied unserer Gemeinschaft sein. Macht dich das glücklich, Evie?«

Sie nickte eifrig. »Sehr glücklich«, sagte sie. Ihre Augen sahen überanstrengt aus.

»Aber trotzdem hast du Angst. Hat deine Angst mit diesem Ort zu tun, oder geht es eher um die Liebe, um deine persönliche Verpflichtung?«

Als er sah, wie Evies Blick sich verfinsterte, wusste er sofort, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

»Ich habe keine Angst«, sagte Evie rasch. »Ich bin hier so glücklich, Benjamin. Ich habe wirklich Glück gehabt und ich weiß das. Wir beide wissen das. Raffy tut es wirklich aufrichtig leid, was er getan hat. Und im Grunde war es wohl meine Schuld. Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Neil meinte, es ist okay. Er hat es verstanden. Bitte, denken Sie nicht, Raffy … Er meint es nicht so. Er versucht nur …« Evie verstummte, und Benjamin erkannte den Zwiespalt, in dem sie steckte: Einerseits wollte sie ihn schützen, und andererseits war sie enttäuscht von ihm.

Benjamin nickte bedächtig. Dann blieb er stehen und sofort hielt auch Evie inne.

»Die Liebe ist eine komplizierte Angelegenheit«, sagte er. »Wir können auf ganz verschiedene Weise lieben. Wir können unser Land lieben, unsere Eltern. Wir können uns verlieben und wieder trennen.« Er holte tief Luft. »Aber die Liebe sollte uns nie Angst machen oder uns erdrücken. Wir sind nicht verantwortlich füreinander, verstehst du?«

Evie biss sich auf die Lippen. »Ich … ich glaube schon. Aber ich liebe Raffy. Ich liebe ihn wirklich.«

Benjamin lächelte. »Gut. Und keine Angst wegen der Hochzeit. Ich glaube, jeder hat Lampenfieber in so einer Situation. Ah, da ist ja Raffy. Na, auch schon nervös vor dem großen Tag?«

Evie fuhr herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass Raffy auf sie zukam. »Nervös? Überhaupt nicht«, sagte Raffy sofort, und seine Stimme klang etwas gereizt. »Ich wünschte, die Hochzeit wäre schon heute. Und Evie auch. Nicht wahr, Evie?«

Raffy sah sie forschend an, und Evie nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Natürlich.«

»Schön.« Benjamin lächelte und warf noch einmal einen Blick auf Evie. Dann machte er sich auf den Heimweg. Bestimmt stand das Essen schon auf dem Schreibtisch, wie jeden Mittag. Doch unterwegs entdeckte er etwas, was er viele Jahre nicht mehr gesehen hatte und von dem er nicht gedacht hätte, dass er es jemals wiedersehen würde. Das Mittagessen musste warten. Es konnte zufällig hierhergekommen sein, vielleicht hatte der Wind es hierher geweht. Aber Benjamin wusste, dass es nicht so war. Es war alt, schmutzig und hatte mehrere Löcher. Bei dem Stofffetzen, der da vor ihm auf dem Weg lag, handelte es sich zweifellos um ein rotes seidenes Taschentuch. Und das konnte nur eines bedeuten.

»Was hat er zu dir gesagt?«, fuhr Raffy Evie an, kaum dass Benjamin außer Hörweite war, und packte sie am Handgelenk.

Evie sah ihn misstrauisch an. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Nach dem Vorfall mit Neil hatte es so ausgesehen, als täte ihm die ganze Sache aufrichtig leid und als hätte er tatsächlich vor, sich zu ändern. Ein paar Tage lang war er ein ganz anderer Mensch gewesen – vielleicht etwas zu sehr auf die Arbeit konzentriert, aber ungezwungen im Umgang mit ihr, hilfsbereit, fröhlich; keine wütenden Blicke, wenn sie sich mit anderen Leuten unterhielt, keine vorwurfsvollen Blicke, wenn sie abends vom Unterricht nach Hause kam. Und dann war er plötzlich wieder rückfällig geworden, nur diesmal war es noch schlimmer, diesmal explodierte er schon bei der geringsten Kleinigkeit und fuhr aus der Haut und war nicht mehr zu beruhigen. »Er hat mit mir über die Hochzeit gesprochen«, sagte Evie. »Er hat gesagt, was für ein herrlicher Tag heute ist und dass die Liebe eine Himmelsmacht wäre.«