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Linus reichte Lucas das Fernglas, und dieser richtete es auf die Absperrung, die die Siedlung von dem umliegenden Ödland trennte. Der schwache Zaun, über den Linus etwas geworfen hatte, ein Zaun, der fast bescheiden aussah und der auf Lucas dennoch wesentlich vertrauenerweckender wirkte als die hohe und gut bewachte Stadtmauer. Aber vor wem bewachen sie sie? Und vor was? Bestimmt nicht vor den Spitzeln. In der Ferne vernahm er ein Motorengeräusch. Und dann sah er es. Es war kein Auto, sondern ein kleiner Lieferwagen, der schnell auf die Siedlung zufuhr und dabei eine Staubfahne hinter sich her zog. »Sie sind da«, flüsterte Linus mit kaum hörbarer Stimme. »Sie sind da.«

Benjamin saß ganz still da, eingehüllt in einen Mantel des Schweigens. Das einzige Geräusch war ein emsiges Summen, das durch das offene Fenster drang. Seine Räumlichkeiten waren spärlich eingerichtet und seine Kleidung war schlicht. Aber einen Luxus gönnte er sich, den einzigen, der zählte. Frieden. Frieden und Ruhe. Ein paar Minuten am Tag ohne Lärm, ohne Störungen, darauf bestand er. Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, um zu planen, nachzudenken; Zeit, die Gedanken treiben zu lassen; Zeit, sich zu entspannen. Es hatte genug Lärm in seinem Leben gegeben. Einen ganz bestimmten Lärm, den er nie wieder hören wollte.

Benjamin holte tief Luft und atmete langsam und nachdenklich wieder aus. Eine wundervolle Sache, der menschliche Körper, dachte er. So komplex und doch so simpel. Luft zum Atmen, Nahrung zum Essen, Kleidung und Obdach zum Schutz, ein freundliches Gesicht, eine Umarmung … Der Mensch strebte nach so vielem und brauchte doch eigentlich so wenig. Benjamin sah sich in dem Zimmer um, wie er es um diese Zeit immer so gern tat, und die Ruhe und die spartanische Einrichtung gefielen ihm ungemein.

Wieder atmete Benjamin langsam und vielsagend ein und aus, dann stand er auf und ging zum Fenster, einem großem Fenster mit Blick auf einen Innenhof. Auf der anderen Seite war Ackerland, das ständig bestellt wurde. Essen. Nahrung. Er hatte diese Aussicht ganz bewusst ausgewählt. Er wollte das Leben sehen, nicht den Tod; Hoffnung, nicht Zerstörung.

Es klopfte an der Tür und er drehte sich um. »Herein.«

Es war Stern. »Benjamin, wir haben Besuch. Die Spitzel.«

»Die Spitzel?« Benjamin runzelte die Stirn. Er hatte zwar Besuch erwartet, aber nicht diesen. Andererseits hatte er im Leben gelernt, dass nur wenige Dinge vorhersehbar waren. »Wo sind sie?«

»Sie sind draußen. Sie wollen mit dir sprechen.«

»Gib mir eine Minute«, sagte er. »Dann wollen wir sehen, warum sie gekommen sind.«

Benjamin wartete, bis Stern das Zimmer verlassen hatte. Dann schloss er die Augen und atmete tief die reinigende Luft ein, um sich mental vorzubereiten. Zuvor hatte ihn schon das Zeichen durcheinandergebracht. Es war schon so lange her, seit er es das letzte Mal gesehen hatte, dass er die Vereinbarung fast vergessen hätte, die er vor Jahren getroffen hatte, als ein Fremder namens Linus, ein Mitbegründer der Stadt, ihn aufsuchte, fast wie ein Prophet aus der Bibeclass="underline" Er war weise für sein Alter, seine Lehre bestand aus Geschichten, die Benjamin nicht recht zu deuten vermochte, aber er war ein guter Mensch. Benjamin hatte es ihm angesehen, und er wusste, dass man ihm vertrauen konnte. Und bevor er ging, hatten sie sich auf ein Zeichen geeinigt. Ein Zeichen, das sie auf Gefahren aufmerksam machen sollte und das nicht missachtet werden durfte. Und nun diese Männer … Hatten die beiden etwas damit zu tun? Sie mussten etwas damit zu tun haben.

Benjamin wappnete sich, öffnete die Tür und ging nach draußen. Als er auf die Männer zuging, bemerkte er, dass sie und ihr Fahrzeug sich gerade noch innerhalb der Umzäunung befanden. Sie suchten nicht Gastfreundschaft. Sie hatten nicht vor, länger zu bleiben als unbedingt nötig. Das war vermutlich die gute Nachricht. Wahrscheinlich ging es um die Abwicklung eines Geschäfts oder um einen gestiegenen Bedarf an Nahrungsmitteln. Benjamin fragte sich oft, ob Linus etwas mit diesen Forderungen zu tun hatte, aber insgeheim hoffte er, dass das nicht der Fall war.

Es waren drei Männer. Einer von ihnen war elegant gekleidet, die beiden anderen trugen Kakihemden und Kakihosen. Den gut gekleideten Mann erkannte er wieder. Sie waren sich früher schon ein paarmal begegnet. Sechs Monate, nachdem Benjamin die Siedlung gegründet hatte, war der Mann zu ihm gekommen und hatte ihm mit einem aalglatten Lächeln Schutz angeboten. Im Gegenzug verlangte er Nahrungsmittel. Abgaben an die Stadt; eine monatliche Lebensmittellieferung für die Bürger der Stadt.

Und Benjamin hatte zugestimmt, wofür er sich ewig schämen würde. Aber er hatte das Kämpfen satt und wollte nicht, dass noch mehr Menschen sterben mussten.

Benjamin nahm die beiden anderen Männer genau unter die Lupe. Waren sie bewaffnet? Die Spitzel hatten immer behauptet, sie bräuchten keine Waffen.

Er nickte dem elegant gekleideten Mann zu, der nie seinen Namen preisgegeben hatte. »Ich heiße Benjamin. Willkommen, Brüder«, sagte er und streckte die Hand aus. Die beiden Männer in Kaki schwiegen.

»Schön, Sie zu sehen, Benjamin«, meinte der Mann im Anzug mit einem Lächeln. »Wir sind gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten.«

Benjamin erwiderte das Lächeln nicht. Besuche von diesen Männern bedeuteten immer Ärger. Entweder verlangte die Stadt von der Siedlung höhere Abgaben oder es gab irgendwelche Beschwerden. Benjamin würde den Bitten nachkommen. Sie würden härter arbeiten, mehr produzieren und alles tun, was nötig war. Wie jede andere Gemeinschaft in diesem gottverdammten Land wusste Benjamin nur zu gut, dass die Spitzel zu mächtig waren, als dass er ihre Forderungen ablehnen könnte. Wenn man ihnen bezahlte, was sie verlangten, behielt man seine Unabhängigkeit und den lang ersehnten Frieden. Benjamin hatte den Leuten in der Siedlung noch gar nicht gesagt, dass jeden Monat ein Viertel ihrer Erzeugnisse in die Stadt wanderte; es genügte, wenn die Spitzel den Transport übernahmen, und es war viel besser, wenn die Menschen mit ihrem Schicksal zufrieden waren, als wenn sie einen Groll gegen eine weit entfernt liegende Stadt hegten. Verbitterung führte zu Krieg, und einen Krieg wollte Benjamin nie wieder erleben.

»Einen Gefallen?« Benjamin hörte, wie Stern sich hinter seinem Rücken räusperte. Das war seine Art, Widerstand zu leisten und seine Unzufriedenheit zu zeigen. Aber Stern war nicht der Anführer der Siedlung, er musste keine schwierigen Entscheidungen treffen. Bevor Benjamin zum ersten Mal Besuch von den Spitzeln bekommen hatte, hatte er von Siedlungen gehört, die niedergebrannt und deren Bewohner erschossen worden waren. Siedlungen, die für die Vorschläge der Spitzel nicht so empfänglich gewesen waren, weil sie fanden, dass die Stadt schon genug hatte und nicht noch mehr bräuchte. Benjamin hatte von Anfang an gewusst, dass die Spitzel es ernst meinten. »Wir waren nicht darauf eingestellt, dass wir schon so bald wieder Besuch bekommen würden. Ich fürchte, wir sind nicht vorbereitet.«

»Ich bin nicht hier, um etwas abzuholen«, sagte der Mann mit einem beruhigenden Lächeln. »Zumindest nicht das Übliche. Könnten wir vielleicht drinnen weiterreden?«

Benjamin nickte bedächtig und bereitete sich mental vor. Normalerweise betraten die Spitzel nie ein Gebäude in der Siedlung; sie zogen es vor, nur kurz zu bleiben und gleich auf den Punkt zu kommen, und entfernten sich nur selten von ihrem Fahrzeug. Wenn sie bei Nacht die Lebensmittel abholten (und sie kamen immer nachts), überprüften sie nur, ob alles in Ordnung war, und fuhren anschließend zurück zur Sammelstelle, wo die Waren auf Lkw verladen wurden.

Obwohl er spürte, wie sein Herz pochte, blieb sein Gesichtsausdruck unbewegt. »Natürlich«, sagte er, zeigte dem Mann den Weg und bedeutete Stern, mit den beiden anderen Männern draußen zu warten. Sie betraten Benjamins Räumlichkeiten und der schloss die Tür. »Bitte, nehmen Sie Platz. Machen Sie es sich bequem.«