Doch der Mann setzte sich nicht. Er schaute sich im Zimmer um und dann sah er Benjamin in die Augen. »Benjamin, wir glauben, dass sich vor Kurzem zwei junge Leute Ihrer Gemeinschaft angeschlossen haben. Junge Leute, die aus der Stadt geflohen sind und die wir gern zurückhaben wollen. Sie werden vermisst. Deshalb sind wir gekommen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie sie sofort holen würden, damit wir sie nach Hause bringen können.«
»Verstehe«, sagte Benjamin nachdenklich und bekam plötzlich Angst. Bis jetzt hatte er gehofft, dass es vielleicht eine Möglichkeit gäbe, die Männer abzuwimmeln. Aber jetzt war ihm klar, dass das nicht ging. Mit Waren konnte er handeln, aber nicht mit Menschen. »Zwei junge Leute, sagen Sie?«
Der Mann nickte. »Die Einzigen, die sich in den letzten zwei Jahren Ihrer Gemeinschaft angeschlossen haben. Sie wissen genau, von wem ich spreche. Von Raffy und Evie. Wir brauchen sie, und zwar jetzt gleich.«
Benjamin blickte ihn aufmerksam an. »Alle Leute in unserer Gemeinschaft sind Bürger. Sie auszuliefern … ist nicht so einfach«, sagte er.
Die Gesichtszüge des Mannes verhärteten sich. »Benjamin, seien Sie nicht dumm«, knurrte er. »Sie sind noch nicht lange hier, sie verdienen Ihren Schutz nicht. Übergeben Sie sie uns und wir verschwinden still und leise. Aber wenn Sie es nicht tun …«
»Was dann?«, fragte Benjamin leichthin.
Der Mann lächelte. »Sie wissen, was dann passiert. Es wäre eine Schande. Eine nette Siedlung haben Sie da. Wirklich sehr nett.«
Benjamin ließ die Worte sacken und traf eine Entscheidung. »Sie haben recht«, meinte er achselzuckend. »Sie sind gerade erst zu uns gestoßen. Ich bin sicher, wir können sie gehen lassen. Ich muss nur feststellen, wo sie gerade sind. Für die anderen werde ich mir eine Geschichte ausdenken müssen. Ich möchte nicht, dass die Leute Angst bekommen.«
Benjamin warf dem Mann einen strengen Blick zu, aber der schien es nicht zu bemerken. Benjamin ging langsam zur Tür, öffnete sie, rief Stern zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Stern machte ein verdutztes Gesicht, nickte aber sofort. Dann ging Benjamin ganz gemächlich hinüber zum Regal, zog einen Aktenordner heraus und begab sich wieder zu seinem Schreibtisch. »Nicht hier drin«, murmelte er vor sich hin, legte den Aktenordner auf den Schreibtisch und schlug den Aktendeckel auf. »Ah, da ist er ja«, sagte er.
Der Mann entdeckte das schimmernde Metall zu spät; Benjamin hatte bereits einen Schuss abgegeben. Draußen waren zwei weitere Schüsse zu hören. Kurz darauf sprang die Tür auf, und Benjamin und Stern tauschten einen vielsagenden Blick, einen Blick, der alles sagte, was sie wissen mussten, den sie sich vor Jahren angewöhnt hatten, als sie noch zusammen im Gefängnis saßen, damals in der alten Welt, über die sie heute kaum noch sprachen.
»Wir müssen die Leichen fortschaffen«, meinte Benjamin grimmig.
Stern nickte.
»Und wärst du so gut und würdest zum Tor gehen und das hier mitnehmen?« Benjamin gab ihm das schmutzige Tuch, dass er früher am Tag aufgehoben hatte. Das Tuch mit dem roten Zeichen, das besagte: Tu, was nötig ist. Benjamin hatte getan, was von ihm verlangt wurde, und Stern ebenfalls. Und jetzt musste er wissen, warum. »Ich glaube, wir haben noch mehr Besucher. Ich würde sie jetzt gerne sehen.«
Stern runzelte unsicher die Stirn und nahm das Tuch. Als er sich zum Gehen wandte, streckte Benjamin die Hand aus und berührte Stern an der Schulter. »Danke«, sagte er, »dass du an mich glaubst.«
Stern sah ihn merkwürdig an. »Alle glauben an dich. Aber du bist der Einzige, der an mich glaubt. Du musst dich nicht bedanken.« Und mit diesen Worten verschwand er. Benjamin starrte auf den Spitzel, der in einer Blutlache vor ihm auf dem Boden lag.
34
Evie schreckte aus dem Schlaf hoch und sah ein Gesicht, das sich über sie beugte. Es war Benjamin. Sie starrte ihn unsicher an, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie wickelte sich fest in ihre Decke ein.
»Evie«, sagte er sanft. »Es tut mir leid, dass ich dich so spät noch störe, aber du musst aufstehen.«
»Aufstehen?«
»Ja«, ertönte eine Stimme, die ihr so vertraut war, dass sie glaubte, sie würde träumen, weil er es nicht sein konnte. Es konnte nicht Linus sein. Das ergab keinen Sinn. Sie setzte sich auf und starrte Linus und Benjamin an, die an ihrem Bett standen. Und dann tauchte hinter ihnen noch ein weiteres Gesicht auf. Evie riss die Augen auf, wurde rot im Gesicht, und ihr Herz pochte wie wild. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Das musste ein Traum sein.
»Lucas?« Es war tatsächlich Lucas. Evie starrte ihn an, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, zu denken, ihr Herz pochte, und ihre Hände waren plötzlich feucht und kalt. War das ein Test? Eine Warnung? Ein …
»Lucas?« Beim Klang von Raffys Stimme drehte sie sich um. Er war aufgewacht und saß jetzt kerzengerade im Bett. Wütend sah er Lucas an. »Was machst du hier? Was macht ihr alle hier?«, fragte er in barschem Ton. Er rückte ein Stück nach vorn, als könnte er Evie so vor den Blicken der anderen schützen.
»Tut mir leid, Raffy, aber wir müssen hier weg«, sagte Lucas leise. »Ihr beide seid in Gefahr.«
»Weg? Nein«, sagte Raffy und wandte sich ab. »Wir gehen nirgendwohin.«
»Raffy«, meinte Benjamin ernst. »Ich fürchte, ihr müsst. Ein paar Männer waren hier und haben euch gesucht. Wir sind mit ihnen fertig geworden, aber es werden wieder welche kommen. Ihr müsst unbedingt von hier verschwinden.«
Es klopfte leise an der Tür, und als sie aufging, erschien Sterns Gesicht im Türrahmen. Er war erstaunt, weil so viele Leute im Zimmer waren, und als er Benjamin entdeckte, schlich er zu ihm.
»Ich habe Klarschiff gemacht«, sagte er und sah seinen Anführer vielsagend an.
Benjamin machte ein finsteres Gesicht und nickte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Höchstens eine Stunde.« Er sah Linus an. »Und du behauptest, die Stadt hätte nichts damit zu tun? Es waren Männer aus der Stadt. Die Spitzel.«
Linus verzog das Gesicht. »Es sieht vielleicht so aus, als würden die Spitzel im Auftrag der Stadt handeln, weil sie für deren Bewohner Nahrungsmittel sammeln. Aber in Wahrheit ist es umgekehrt. Die Spitzel kommen nicht aus der Stadt. Diese beiden Männer handeln vielleicht im Auftrag der Stadt, aber sie tun es in ihrem eigenen Interesse. Wie dem auch sei, sie sind gefährlicher, als ihr euch vorstellen könnt.«
Benjamin schien Linus’ Worte erst verdauen zu müssen. Dann packte er Stern am Arm. »Stern, du musst eine Zeit lang die Führung der Siedlung übernehmen. Die Siedlung ist in großer Gefahr. Du musst die Leute in die Berge bringen, so wie wir es geübt haben. Die Vorräte dort reichen, falls nötig, für mehrere Monate.«
Stern nickte stumm.
»Sorg dafür, dass die Anweisungen genau befolgt werden. Ich kümmere mich darum, dass Raffy und Evie sicher von hier wegkommen. Dann stoße ich zu euch.«
»Natürlich, Benjamin«, sagte Stern etwas verwirrt.
»Schärf allen ein, dass sie stark sein müssen und dass wir das gemeinsam durchstehen.« Er entließ Stern, warf ihm aber zum Schluss noch einen Blick zu. »Geh jetzt«, befahl er. Dann wandte er sich wieder an Raffy. »Ihr müsst hier weg. Auf der Stelle. Euer Leben ist in Gefahr.«
Evie fing Lucas’ Blick auf und wurde rot. Sie schaute schnell weg und sah auf den Boden, auf das Bettlaken, auf irgendetwas.