»Vielleicht könntet ihr … uns ein paar Minuten allein lassen«, schlug sie vor, »damit wir uns fertig machen können?«
Sie lächelte Benjamin verlegen an und der nickte sofort.
»Natürlich. Tut mir leid. Wir warten draußen.«
»Da könnt ihr auch bleiben«, sagte Raffy. »Wir gehen nirgendwohin. Keiner von uns.«
»Ihr habt fünf Minuten«, meinte Linus verschmitzt. »Dann holen wir euch, ob ihr nun angezogen seid oder nicht.«
Linus verließ das Zimmer, gefolgt von Benjamin und Lucas. Evie holte eine Reisetasche hervor und stopfte ein paar Sachen hinein. Raffy setzte sich im Bett auf. »Wir werden nicht gehen, Evie. Stell die Tasche weg. Das ist ein Trick.«
Evie drehte sich ungläubig zu ihm um. »Ein Trick? Raffy, bist du verrückt? Benjamin hat selbst gesagt, dass wir wegmüssen.«
»Weil Lucas ihn überzeugt hat. Es geht um Lucas«, sagte Raffy kopfschüttelnd und verengte die Augen zu Schlitzen. »Er kann es nicht ertragen, dass ich glücklich bin. Du kennst ihn nicht. Nicht wirklich. Ich gehe nirgendwohin mit ihm. Und du auch nicht.«
Evie schüttelte verwundert den Kopf. »Du musst deine Wut auf Lucas überwinden«, sagte sie. »Hier geht es nicht um euch beide. Es geht nicht immer um dich und Lucas.«
Raffy sah sie finster an. »Ich sehe schon, er hat dich genau da, wo er dich haben will. Aber das war schon immer so, oder?«
Evie schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann zog sie den Reißverschluss ihrer Reisetasche zu. »Weißt du was?«, sagte sie und zupfte an einem Gewand herum. »Ich gehe. Und wenn du dich nach allem, was wir durchgemacht haben, wie ein Idiot aufführen willst, dann ist das okay. Aber ich werde nicht untätig hier herumhängen. Du kannst bleiben und tun, was du willst.«
Evie ging zur Tür, aber Raffy sprang aus dem Bett, riss ihr die Reisetasche aus der Hand und warf sie auf den Boden. »Nein!« Er ging auf sie los und packte sie an den Handgelenken. »Wenn du mich liebst, dann gehst du nicht, dann bleibst du bei mir.«
»Fertig?« Linus’ Gesicht erschien in der Tür. Als er sah, wie Raffy Evie festhielt, runzelte er die Stirn. »Los, wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Wir kommen nicht mit«, erklärte Raffy mit leiser, angespannter Stimme. »Wenn Benjamin uns hier nicht mehr haben will, dann gehen wir eben woandershin. Aber auf eigene Faust. Ohne jede Hilfe.«
»Nein, Raffy«, sagte Evie. »Lass mich los.« Sie starrte auf Raffys Hände. Er ließ ihre Handgelenke los, und seine Arme fielen schlaff herunter. »Pack jetzt dein Zeug zusammen«, befahl sie.
Sie hatte sich noch nie so wütend, noch nie so beherrscht erlebt. Und zu ihrem Erstaunen widersprach Raffy nicht, bedrohte sie nicht und verlor auch nicht die Kontrolle. Er sah sie nur mit blitzenden Augen an, schüttelte den Kopf und packte seine Tasche.
35
Devil sah sich um. Stell den Aktenkoffer an dem Fußweg ab, hatte Thomas gesagt. An dem Fußweg in seiner Siedlung. Versteck ihn da, wo keiner ihn sieht. Und dann lauf weg, weit weg. Aber Devil wollte nicht weglaufen. Er wusste, was in dem Aktenkoffer war. Er hatte nachgesehen.
Er stellte den Koffer ab und begann auf und ab zu gehen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Thomas wusste, was er tat. Er musste es wissen. Er war klug. Er verstand sein Handwerk. Er wusste alles über Devil. Er hatte ihn ausgewählt, und Devil wollte ihn nicht enttäuschen.
Er sollte verschwinden und machen, dass er wegkam, hatte Thomas gesagt.
Aber er konnte nicht. Noch nicht. Erst wenn er sich sicher war. Aber inwiefern sicher? Was sollte er sonst mit dem Aktenkoffer machen? Er öffnete ihn noch einmal ganz vorsichtig und ließ die Finger über die Verschlüsse gleiten. Er schluckte und spürte einen Kloß im Hals. Ihm wurde flau im Magen. Laut Zeitschaltuhr waren es noch dreißig Minuten. Dreißig Minuten und fünfunddreißig Sekunden. Vierunddreißig Sekunden. Dreiunddreißig …
Thomas wollte, dass er das tat. Und sein Vater wollte es auch. Thomas sprach viel von Devils Vater. Der habe Devil nicht vergessen, sagte er. Er hatte seine Familie verlassen müssen, aber er hatte Thomas gebeten, auf Devil aufzupassen. Devil sei ein Gewinner, hatte er Thomas erklärt, und er solle seine Gemeinde übernehmen. Sein Sohn sollte ein Anführer werden, genau wie er. Bald wäre Dalston nur noch ein böser Traum, bekam Devil regelmäßig von Thomas zu hören.
Ein böser Traum oder ein beschissenes Trümmerfeld?
Devil wischte sich über die Stirn. Sein Herz schlug so schnell, dass er meinte, es müsse jeden Moment zerspringen. Noch achtundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden. Elf …
Er musste von hier verschwinden. Das Ganze ging ihn nichts an. Er machte nur seinen Job. Um sich zu bewähren. Um zu beweisen, dass er das Zeug dazu hatte.
Das Zeug wozu? Menschen zu töten?
Er starrte auf den Aktenkoffer. Blickte hinüber zur Siedlung. Er hasste und verabscheute sie. Aber er wollte nicht, dass alle starben. Die Leute, die hier lebten, waren in Ordnung. Man konnte gut mit ihnen auskommen.
»Mach deinen Job und danach erwartet dich ein neues Leben, Devil.«
Devil sah sich hektisch um. Dann nahm er auf einmal den Aktenkoffer und rannte los. Er war noch nie so schnell gerannt. Er lief in Richtung des Ödlands, das hinter der Siedlung lag. Während er rannte, schrie er und scheuchte ein paar Leute auf, die hinter der Siedlung herumlungerten. »Verschwindet von hier«, brüllte er. »Hier ist es gefährlich. Verdammt, haut ab! Das Ding hier fliegt gleich in die Luft.« Und die Leute rannten, rannten schnell, weg von Devil, weg von dem Aktenkoffer in seiner Hand. Schließlich fand er, was er suchte: das Loch, das für die Fundamente des Jugendklubs ausgehoben worden war. Zwei oder drei Meter tief. Devil warf den Aktenkoffer hinein und machte sich auf eine Explosion gefasst, aber nichts passierte.
Er drehte sich um und fing wieder an zu rennen; er wollte so weit wie möglich von der Siedlung weg.
Während er rannte, klingelte das Handy in seiner Tasche, und auf dem Display leuchtete Thomas’ Name auf.
»Ja?«, keuchte Devil.
»Hast du es getan?«, fragte Thomas.
Devil zögerte. »Ja.«
»Gut. Wo bist du jetzt?«
»Ich verlasse gerade die Siedlung.«
»An deiner Stelle würde ich rennen.«
»Ich renne ja«, sagte Devil. »Ich renne ja.«
Und während er rannte, sah er, dass die paar Leute, die er zuvor gewarnt hatte, gerade dabei waren, andere aus der Siedlung zu holen. Sie liefen nicht weg, sondern trommelten die Leute zusammen, holten die Menschen aus ihren Wohnungen und hämmerten gegen Türen. Devil wusste nicht warum, aber er fing an zu weinen. Die Menschen waren keine Schafe. Sie waren nicht schwach. Sie waren gut. Sie waren viel besser als er. Und er machte wieder kehrt und rannte zurück, hämmerte an die Türen, zerrte die Leute aus ihren Wohnungen und erzählte ihnen Geschichten von Gangs, die die Siedlung niederbrennen wollten, um ihnen klarzumachen, dass sie hier nicht mehr sicher waren. Es blieb keine Zeit mehr, aber er rannte trotzdem weiter und schrie, bis er heiser war und bis, soviel er sehen konnte, alle Leute die Siedlung verlassen hatten. Er folgte der Menge, die keine Ahnung hatte, wohin sie gehen sollte oder warum. Da klingelte sein Handy wieder.
»Bist du inzwischen weit genug weg?«
»Noch nicht ganz«, sagte Devil.
»Dann renn los«, sagte Thomas. »Du wirst berühmt, Devil. In ein paar Minuten stelle ich deine Predigten ins Netz. Du wirst berühmt-berüchtigt und die Menschen werden dir folgen.«