»Was meinen Sie damit?«, fragte Devil, den Blick auf die Siedlung und das Land dahinter gerichtet.
»Die Genesis, das Erste Buch Mose«, sagte Thomas. »Du hast selbst daraus zitiert. ›Und der Herr sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.‹ Das bist du, Devil. Du bist Noah. Und Gott selbst. Die Bösen werden bestraft, und den anderen wird Erlösung gewährt, wenn sie dir folgen, wenn sie tun, was du von ihnen verlangst.«
Devil schüttelte den Kopf. »Das wird nicht funktionieren, Thomas. Hier wird heute niemand sterben.«
»Was meinst du damit?« Thomas’ Stimme klang auf einmal kalt und zornig.
Aber Devil bemerkte es nicht, weil er gerade etwas entdeckt hatte. Ein Kind. Das kleine Mädchen, dem er das Fahrrad geklaut hatte. Mit ängstlichem Gesicht stand es auf dem Fußweg und blickte unsicher zu Boden. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Explosion. Trotzdem rannte Devil zurück zur Siedlung und die Treppe hinauf. Er setzte das Mädchen auf seine Schultern und rannte los, obwohl er wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde. Als er unten an der Treppe anlangte, gab es einen Knall, als ob eine Million Feuerwerkskörper auf einmal explodierten, nur noch lauter. »Es geht los«, hörte er Thomas durchs Handy. »Die Flut kommt.«
Devil roch den Rauch, hörte die Menschen rennen und schreien, aber er war wie gelähmt und konnte keinen Muskel bewegen wegen des Rauchs, der ihm in die Nase drang. Er hatte keinen solchen Rauch mehr gerochen seit … seit langer Zeit. Als er sich wieder bewegen konnte, ließ er sich zu Boden sinken, denn nun kamen die Erinnerungen wieder hoch. Er erinnerte sich an den Rauch, der ihm in den Mund und in die Nase drang. Er erinnerte sich, dass er Angst hatte, Angst wegen der Zigarette, die er geraucht hatte, der Zigarette, die den Rauch verursacht hatte, denn wenn seine Mum davon Wind bekäme, würde sie ihn windelweich prügeln. Er erinnerte sich, wie er aus der Wohnung gerannt war, um sich in Sicherheit zu bringen, weg von dem Rauch, weg von dem Feuer.
Und er erinnerte sich, dass er überhaupt nicht an Leona gedacht hatte.
Er spürte die Wärme, konnte den Hauch des Todes in der Luft riechen, der ihm in die Lungen drang. Menschen schrien, aber Devil hörte nicht hin. Denn er war mit seinen Gedanken ganz weit weg, irgendwo, wo alles voller Rauch war und heiß. Er erinnerte sich. Er war wieder in der Wohnung. Es war der Tag, an dem Leona starb.
Auf einmal bemerkte Devil, dass er etwas im Arm hielt. Es war das Mädchen. Sie lag in seinen Armen, das Handy gegen ihre Schulter gepresst. Leona?
Nein, es war nicht Leona. Sie konnte es ja nicht sein.
Leona war nicht aus dem Fenster gefallen. Wahrscheinlich hatte seine Mum es gar nicht offen gelassen.
Leona hatte es selbst geöffnet.
Leona war aus dem Fenster gesprungen.
Sie war gesprungen, weil er gezündelt und sie allein in der Wohnung zurückgelassen hatte.
Ein roter Blitz schoss durch seinen Kopf und langsam rappelte er sich wieder auf. Das Mädchen hustete, es lebte. Es hatte die Arme um Devils Hals geschlungen und sah zu ihm auf. Und er hielt es ganz fest und weinte.
»Sag mir, was los ist, Devil«, hörte er Thomas durch das Handy schreien. »Sag mir sofort …«
Devil warf einen Blick auf das Handy, das zu Boden gefallen war, und kickte es mit dem Fuß weg. Er hielt das Mädchen noch ein paar Sekunden ganz fest und spürte seine Wärme, seine Lebendigkeit. Als der Klang der Sirenen näher kam, setzte er das Mädchen ab, strich ihm über den Kopf, verabschiedete sich und rannte davon.
36
Evie marschierte schweigend durch die Dunkelheit, den Blick nach vorn gerichtet. Neben ihr ging Raffy, die Hände in den Taschen vergraben und mit finsterem Gesicht. Sie beobachtete ihn eine Weile und dachte daran, wie sein Zorn auf die Welt sie früher fasziniert hatte, wie seine Weigerung, sich anzupassen, ihn so unwiderstehlich gemacht hatte. Damals in der Stadt hatten sie und Raffy allein gegen den Rest der Welt gestanden. Ihre geheimen Treffen waren das Einzige gewesen, worauf sie sich gefreut hatte. Er war der Einzige, der die Dinge offenbar ebenso infrage stellte wie sie; der die Regeln der Stadt als derart einengend empfand, als hätten sie ihm Ketten angelegt.
Aber jetzt war alles ganz anders. Außer dass Raffy immer noch wütend, gereizt und eifersüchtig war, so als hätte sich nichts verändert, als wäre es nicht die Stadt gewesen, die ihn letztlich zu dem gemacht hatte, was er heute war.
Und während sein Zorn ihn früher aufregend und gefährlich erscheinen ließ, irritierte er Evie heute mehr, als sie mit Worten ausdrücken konnte.
Raffy ging neben ihr und passte seinen Schritt ihrem Tempo an; wenn sie den Schritt verlangsamte, ging auch er langsamer, und wenn sie den Schritt beschleunigte, ging auch er schneller. Während sie so nebeneinanderhergingen, wurde Evie bewusst, dass sie ihn abschütteln wollte; dass sie es schon eine ganze Weile versuchte und dass er es nicht zulassen würde. Je mehr sie versuchte, sich davonzumachen, desto mehr verfolgte er sie.
Die ganze Zeit hatte sie ihm seinen Willen gelassen, hatte vernünftig mit ihm geredet, war um ihn herumgeschlichen, hatte sich vereinnahmen lassen und hatte sich damit abgefunden, dass er grundlos wütend wurde. Weil sie wusste, dass er sie brauchte. Weil sie dachte, sie sei ihm etwas schuldig. Weil sie in der Siedlung glücklich sein wollte und weil sie keinen Ärger machen wollte.
Sie mussten die Siedlung verlassen, und etwas Schreckliches ging vor sich. Aber alles, was Raffy interessierte, war, dass er mit ihr Schritt hielt, dass er direkt neben ihr ging und dass sie in Sichtweite blieb, obwohl er zuvor, trotz Linus’ Warnung, dass sie in Lebensgefahr seien, bereit gewesen war, mit ihr in der Siedlung zu bleiben.
Weil er nicht an sie dachte, sondern nur an sich selbst.
Er dachte immer nur an sich selbst.
Evies Herz pochte vor Empörung und vor Enttäuschung, weil sie das nicht schon früher erkannt hatte. Sogar Raffys Wut auf Lucas diente der Selbsterhaltung und war selbst auferlegt. Es ging gar nicht um den Kuss. Raffy hatte Lucas schon lange vorher verachtet. Selbst als er erfuhr, was Lucas erduldet hatte, um ihn zu beschützen. Raffy sollte seinem Bruder dankbar sein. Er sollte ihn anhören, ihn alles erklären lassen und sich im Zweifelsfall auf seine Seite stellen.
Er sollte endlich erwachsen werden.
Evie steckte die linke Hand in ihre Tasche und griff nach dem kühlen metallenen Gegenstand, den sie dort versteckt hatte, den sie schon seit fast einem Jahr immer an einer anderen Stelle verbarg, stets darauf bedacht, dass er nicht gefunden wurde. Ihn hatte Evie als Erstes in ihre Reisetasche gesteckt; es war der einzige Gegenstand, ohne den Evie das Lager nicht verlassen konnte. Bevor sie aus dem Zimmer ging, das sie sich mit Raffy teilte, hatte sie ihn aus der Reisetasche genommen und in ihre Manteltasche gesteckt für den Fall, dass die Tasche verlorenging oder dass Raffy sie öffnete.
Es war Lucas’ Uhr, die Uhr, die sie sich so mühsam zurückgeholt hatte, nachdem Raffy sie weggegeben hatte. Sie hatte die Uhr so lange versteckt, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich damit machen sollte.
Jetzt hielt sie die Uhr in der Hand und fühlte sich wieder stark, denn ihre alte Energie kehrte zurück. Sie wollte sich nicht mehr damit abfinden. Sie wollte nicht mehr zulassen, dass Raffy immer seinen Kopf durchsetzte.
Evies Blick ruhte auf Lucas, der ein paar Meter vor ihr ging. Er war ungefähr so groß wie Raffy, vielleicht ein oder zwei Zentimeter größer, aber selbst gegen Raffys neue muskulöse Statur war er immer noch breitschultriger. Er ging aufrecht und blickte stur geradeaus, stets konzentriert und wachsam. Evie konnte es sehen, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, woran sie das erkannte. Sie wusste nur, dass er beobachtete und lauschte, wie er es früher in der Stadt getan hatte.