Deshalb rannte er zurück in die Stadt, zurück zur Polizeiwache, drängte sich an der Schlange vorbei, stellte sich an den Tresen und haute mit der Faust darauf.
»Ich will mich stellen«, rief er.
Der Mann hinter dem Besuchertresen drückte einen Knopf, und sofort kam der Polizeibeamte mit der Anstecknadel aus einer Tür und ging zu Devil hin.
»Du schon wieder«, sagte er mit eiskaltem Blick. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht unsere kostbare Zeit vergeuden. Da war keine Bombe. Da war kein …«
»Darum geht es nicht«, warf Devil rasch ein. »Ich will mit dem rothaarigen Polizisten sprechen.«
»Pete?«, sagte der Mann hinter dem Tresen. »Soll ich Wachtmeister Wainright holen?«
»Das wird nicht nötig sein«, meinte der Beamte. »Du kannst mit mir sprechen.«
»Ich will aber Pete«, sagte Devil verzweifelt. »Bitte«, bat er den Mann am Tresen. Dieser zuckte die Achseln und hob den Telefonhörer ab. Nach einer Weile ging die Tür auf und der rothaarige Polizist erschien. Er sah Devil unsicher an.
»Er verschwendet nur unsere Zeit«, erklärte der leitende Polizeibeamte, der, dem die Härchen aus der Nase wuchsen. »Ich erledige das.«
»Wie Sie meinen«, sagte Wachtmeister Wainright achselzuckend und wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie«, schrie Devil. »Warten Sie.« Er musterte Wachtmeister Wainright von oben bis unten. Da war kein Anstecker und kein Ring.
»Worum geht’s denn?«, fragte der Wachtmeister.
»Ich will mich stellen«, erklärte Devil.
»Wegen etwas, was nicht passiert ist«, sagte der schmallippige Polizist.
»Wegen Mordes an einem Mitglied der Green Lanes Massive Gang«, sagte Devil und schlug mit der Faust auf den Tresen. »Wegen Drogenhandel. Und wegen Führens einer Gang. Sie wissen alles darüber. Sie waren dort. Sie haben mit den Leuten gesprochen. Sie wissen, was passiert ist. Ich möchte ein Geständnis ablegen …«
38
Sie waren inzwischen vierzig Minuten marschiert und schon gut vorangekommen; bei Tagesanbruch würden sie in einem sicheren Versteck sein. Linus hatte Benjamin darüber aufgeklärt, wie viel Sicherheit die Höhlen boten, ein Geschenk der Natur, wenn man überleben wollte. Schon bei ihrer ersten Begegnung war dieses Thema zur Sprache gekommen. Linus hatte Benjamin über die Siedlung ausgefragt, wie sie geführt wurde und wie es mit der Versorgung der Menschen aussah. Er hatte so viele Fragen gestellt, dass Benjamin misstrauisch geworden war und gedroht hatte, Linus aus der Siedlung schaffen zu lassen, wenn er ihm über die wahren Gründe seines Besuchs nicht reinen Wein einschenkte. Aber Linus war deswegen anscheinend überhaupt nicht beunruhigt gewesen, denn er hatte weitergeredet, Bemerkungen und Vorschläge gemacht und Fragen gestellt. Er hatte Benjamin erklärt, dass seine Siedlung und er als deren Oberhaupt angreifbar seien. »Du musst immer eine Rückzugsmöglichkeit haben«, hatte er gesagt. »Einen Ort, an den du dich flüchten kannst. Glaub mir, eines Tages wirst du mir dankbar sein.«
»Glaubst du, dass alles gut geht?«, fragte Benjamin.
Stern sah ihn merkwürdig an. Es kam nicht oft vor, dass Benjamin Bestätigung suchte. Vielleicht zweimal in zwanzig Jahren. Stern nickte. »Wir sind alle am Leben. Wir haben Essen und Wasser. Die Höhlen sind bereit und warten auf uns. Natürlich geht alles gut.«
Benjamin nickte, obwohl er ein ungutes Gefühl hatte. Sie waren alle am Leben. Aber wie lange noch? Wo führte er sie eigentlich hin? Wie kam er dazu, sich zu ihrem Anführer zu erklären, der alle Entscheidungen traf? Manchmal hörte er, wie die Leute über ihn redeten, als wäre er so etwas wie ein Gott, eine Art Erlöser, den der Himmel ihnen geschickt hatte. Aber er wusste, was er wirklich war. Er wusste, dass er alles andere war als ein Gott.
Andererseits hatte Gott auch nicht viel für die Menschen getan. Der Gott des Alten Testaments hatte nach Art eines Kriegsherrn mehr Interesse an Grausamkeiten, am Töten und Verstümmeln gezeigt. Dann sandte er seinen Sohn auf die Erde, damit der in seinem Namen predigte, und ließ es zu, dass er gefoltert und ermordet wurde. Vielleicht hatte sein Sohn sein Missfallen erregt, überlegte Benjamin. Vielleicht war er unzufrieden damit, wie sein Sohn seine Botschaft interpretiert hatte. Denn Jesus sprach nicht von Bestrafung, sondern von Vergebung, von Geduld, von einem bescheidenen, rechtschaffenen Leben, von Toleranz gegenüber anderen, obwohl sein Vater eindeutig nicht tolerant war. Sein Vater kannte keine Vergebung. Er war ein zorniger, machtbesessener Gott, der von seinen Anhängern bedingungslose Ergebenheit und Unterwerfung verlangte. Sicher, in der Bibel stand, dass Gott seinen Sohn opferte, um die Welt zu retten, aber daran hatte Benjamin nie wirklich geglaubt. Jesus schien nicht von derselben Schrift zu sprechen wie sein alter Herr. Vielleicht hatte er über die Stränge geschlagen. Vielleicht hatte sein Vater nicht damit gerechnet, dass er eine eigene Meinung hatte. Benjamin musste lächeln, als er sich Jesus als Sohn eines Diktators vorstellte, der versuchte, das Regime zu modernisieren und es menschenfreundlicher und angenehmer erscheinen zu lassen, während sein Vater kein Interesse daran hatte, den Status quo zu ändern. Vielleicht hatte Jesus deshalb mit seinem Leben bezahlt, und nicht, um irgendjemanden zu retten.
»Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, sich mit der Stadt anzulegen«, meinte Stern plötzlich. »Vielleicht können wir unseren Leuten jetzt die Wahrheit sagen. Jetzt, da wir der Stadt die Stirn geboten haben.«
Benjamin drehte sich verwundert um. Er hatte immer gedacht, dass Stern dasselbe wollte wie er; dass es besser war, die Spitzel zu beschwichtigen, als noch mehr Blut zu vergießen. »Hätte ich ihnen schon früher die Stirn bieten sollen? Obwohl das alle in Lebensgefahr gebracht hätte?«
Stern blieb nicht stehen. »Es ist immer besser, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, auch wenn es dann kürzer ist als ein Leben in Knechtschaft.«
»Aber keiner wusste, dass wir in Knechtschaft gelebt haben«, sagte Benjamin.
»Ich schon«, erwiderte Stern schlicht.
Benjamin nickte, und er hatte das Gefühl, als läge eine Zentnerlast auf seinen Schultern. Seine Siedlung sollte ein würdevoller, von Stolz erfüllter Ort sein. Aber die Spitzel hatten ihm die Würde genommen. Und er hatte sie Stern genommen.
Benjamin holte tief Luft und begriff, dass Stern recht hatte: Das war ein Neubeginn, eine Chance, noch einmal von vorn anzufangen. Sie brauchten nicht viel zum Leben. Luft zum Atmen, Nahrung, Kleidung und Obdach, ein freundliches Gesicht, eine Umarmung …
»Tut mir leid«, sagte er zu Stern. »Aber eins musst du wissen: Die Männer sind nicht aus der Stadt. Sie handeln zwar in deren Auftrag und schaffen Nahrung heran, aber sie verfolgen ihre eigenen Pläne. Und diese Pläne zu durchkreuzen ist gefährlich. Du musst vorbereitet sein.«
»Ich bin immer vorbereitet«, erklärte Stern mit einem Achselzucken.
Jeder trug nur eine Tasche bei sich, und nicht mal eine große. Die Leute konnten, wenn nötig, auch mit wenig Gepäck reisen, und trotzdem taten sie oft das Gegenteil. Benjamin erinnerte sich noch an die Zeit des Überflusses und der Habgier, als sich in jedem Zimmer und in jedem Schrank materielle Dinge stapelten, die ihre Besitzer infizierten und die Umwelt verschmutzten. So viele Dinge, und dennoch waren alle immer darauf aus, noch mehr zu kaufen. Wie eine Sucht, dachte er bei sich. Als ob materielle Dinge die Leere ausfüllen oder irgendwie eine Antwort geben könnten.
Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Damals hielt sich jeder für unbesiegbar, er auch. Niemand konnte ahnen, was kommen würde, niemand konnte die Schreckenszeit vorhersehen.