»Erzählen Sie uns, was Sie vermuten«, meinte Evie stirnrunzelnd, und Linus seufzte. »Das alles kann kein Zufall sein. Es passt einfach zu gut. Es sieht fast so aus, als hätten sie es gewusst. Als hätten sie gewusst, was passieren würde.«
»Aber das ist unmöglich«, meinte Lucas und runzelte die Stirn.
»Vielleicht.« Linus verzog das Gesicht. »Aber aus einem anderen Blickwinkel betrachtet kann das, was an einem Tag noch unmöglich erscheint, schon am nächsten Tag möglich sein. Die meisten Dinge, die die Menschen zu wissen glauben, entsprechen nicht der Wahrheit. Früher haben die Menschen geglaubt, die Erde sei eine Scheibe und dass die Sonne sich um die Erde dreht. Die Menschen glauben eine Menge Dinge, die sich später als falsch herausstellen. Sie glauben das, was am einfachsten ist. Ich habe noch nicht den richtigen Blickwinkel. Vielleicht, wenn ich es noch eingehender betrachte …«
»Also irren Sie sich vielleicht?«, fragte Evie, und ihre klugen Augen durchbohrten ihn furchtlos. »Ich meine, Sie haben doch gesagt, dass das meiste, was wir glauben, falsch ist. Dann könnten Sie sich jetzt doch auch irren, oder?«
Linus schien ihr diese Bemerkung nicht übel zu nehmen und lächelte. »Könnte sein«, gab er zu. »Aber wie dem auch sei, da draußen gibt es eine Zivilisation, um die lange Zeit ein Geheimnis gemacht wurde und die in der Lage war, sich vor mir zu verbergen.«
»Und sie wird sich auch weiterhin verbergen müssen, wenn sie nicht von mir zerstört werden will«, sagte eine dröhnende Stimme, die von dem Felsvorsprung hinter ihnen kam. Dann erschien ein hochgewachsener, majestätisch wirkender Mann mit dunkler Haut und kurzem grau melierten Haar. »Sie haben die Siedlung zerstört. Alles, was wir aufgebaut haben. Alles …«
»Benjamin!« Raffy sprang auf, lief zu ihm hin und half ihm von dem Felsvorsprung herunter. »Was ist passiert? Warum sind Sie hier? Sie sollten nicht hier sein.« Lucas bemerkte, dass Raffy zutiefst verwirrt und ernsthaft besorgt war.
»Was passiert ist?«, sagte Benjamin. Er legte den Arm um Raffy und ging langsam und mit grimmigem Blick auf die Gruppe zu. »Wir befinden uns wieder im Krieg.«
Er ging hinüber zu Linus und streckte die Hand aus. Evie sah, dass er Tränen in den Augen hatte. »Ich stehe zu Diensten«, sagte er. »Wenn du mich willst.«
»Natürlich will ich«, meinte Linus und rückte ein Stück zur Seite, damit Benjamin sich hinsetzen konnte. »Sonst hätte ich dir nie gesagt, wie du hierher findest. Aber jetzt sag mir, was passiert ist.«
»Es ist so gekommen, wie du vorausgesagt hast. Nur dass der Angriff aus der Luft kam. Eine Bombe. Die ganze Siedlung wurde zerstört.«
Lucas sah, dass Raffy ganz blass wurde. »Sie wurde zerstört?«, stieß er hervor und sah dabei ganz elend aus.
»Nur die Gebäude«, sagte Benjamin ernst. »Die Menschen sind in den Höhlen in Sicherheit.« Benjamin nickte und warf Linus einen dankbaren Blick zu. Evie bemerkte, dass er auf einmal älter aussah, als wäre er in nur einem Tag um zehn Jahre gealtert. Seine Augen funkelten vor Zorn, aber sein Körper wirkte wie erschlagen. »Ein paar Wochen wird es ihnen gut gehen. Aber mir geht es gar nicht gut. Ich bin wütend.«
»Sind Sie zu Fuß gekommen?«, fragte Lucas. »Wie haben Sie es so schnell hierher geschafft?«
Benjamin schüttelte den Kopf. »Linus hat mir vor vielen Jahren vorgeschlagen, in der Höhle ein Fahrzeug bereitzustellen. Nur für den Fall. Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal brauchen würde.«
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Linus, ging auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. »Auch wenn der Anlass nicht erfreulich ist. Aber es ist einfach schön, dich hierzuhaben.«
»Ich bin hier, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Ich bin hier, weil ich dem Ganzen ein Ende machen muss«, sagte Benjamin bestimmt. Seine Augen funkelten, und seine Kiefermuskeln waren gespannt. »Die Siedlung war ein guter Ort. Wir haben niemandem Schwierigkeiten gemacht, und wir haben der Stadt gegeben, was sie verlangt hat.«
Linus zog die Augenbrauen hoch. »Das kümmert diese Leute nicht«, meinte er achselzuckend. »Das weißt du genauso gut wie ich. Die Stadt ist ihnen im Grunde egal. Dass sie als Vertreter der Stadt aufgetreten sind, war nur Mittel zum Zweck.«
»Worum geht es ihnen dann?«, fragte Evie mit zitternder Stimme.
Linus atmete tief aus. »Das ist die Frage«, sagte er und beugte sich vor. »Vielleicht haben sie sich vor langer Zeit für etwas anderes interessiert. Vielleicht waren sie der Meinung, ihr Handeln sei gerechtfertigt. Das Problem ist, Evie, dass jeder, der glaubt, er hätte eine Antwort, eine Lösung, und jeder, der sich im Recht fühlt, unvermeidlich zum Tyrannen wird. Sobald man eine richtige Antwort verkündet, müssen alle anderen Antworten falsch sein. Diktatoren, Religionen … alle wollen sie uns retten, aber in Wirklichkeit trampeln sie auf uns herum und bekämpfen jeden, der sie herausfordert. Das ist alles Größenwahn mit einer dazugehörigen Geschichte als Rechtfertigung.«
»Dann sind sie also größenwahnsinnig?« Evie runzelte die Stirn.
»So etwas Ähnliches«, meinte Linus lächelnd. »Der Zweck heiligt die Mittel. Gewalt wird unter den Teppich gekehrt, Andersdenkende werden zum Schweigen gebracht. Glaub mir, das ist nichts Neues. Aber wir haben etwas, was sie brauchen, oder zumindest den Schlüssel dazu. Wir müssen sehr behutsam vorgehen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir diese Schlacht gewinnen können.«
»Du meinst das System, oder?«, fragte Lucas.
»Ja, das System.« Linus nickte und atmete langsam aus. »Aber was mich eigentlich interessiert, ist das Warum.«
Er ließ die Frage ein paar Sekunden im Raum stehen, dann klatschte er in die Hände. »Aber jetzt ist es Zeit, dass wir uns ausruhen.«
»Ausruhen?«, meinte Evie empört und unterdrückte ein Gähnen.
»Schlafen«, sagte Linus bestimmt. »Na los, ich zeige dir, wo die Decken sind.«
39
Thomas Benning sah sich die Nachrichten an und lächelte, als verzweifelte Reporter vor laufenden Kameras die jüngsten Anschläge zu erklären versuchten, die am selben Tag die Städte London und Birmingham verwüstet hatten. Der erste wurde als Anschlag auf Wohlstand und Kapitalismus gedeutet, der zweite als das Werk religiöser Extremisten.
Sollen sie das ruhig glauben, dachte Thomas mit einem Grinsen.
Thomas ging in Adrians Büro. »Noch zwei Wochen, dann legen wir richtig los«, sagte er.
»Sie meinen …«
»Ich spreche von Krieg, von Armeen, von Zerstörung auf globaler Ebene. Es muss sich anfühlen, als ginge die Welt unter.«
Adrian schien zu überlegen. »Aber … die Bomben hier. Die sind schon ziemlich groß.«
»Ja, ja«, sagte Thomas ungeduldig. »Aber sie sind nur hier. Jetzt wird es Zeit für Phase zwei. Wir schneiden den Rest der Welt von jeglichen Informationen ab. Totaler Blackout.« Adrian verzog das Gesicht und machte den Mund auf, wie um etwas zu sagen. »Ein Blackout, von dem keiner etwas mitbekommt, weil wir gleichzeitig die Lücke mit dem Inhalt füllen, den sie sehen sollen«, fuhr Thomas fort, bevor Adrian ihn unterbrechen konnte. Er fand Erklärungen immer so ermüdend. »Und dasselbe läuft von England aus.«
»Also weiß niemand, was wir getan haben?«
»Wüsstest du, dass ich den Äther übernommen habe, wenn dein Fernsehprogramm ganz normal weiterlaufen würde?«, fragte Thomas.
Adrian schüttelte den Kopf.
»Wüsstest du, dass dein Freund in Europa tot ist, wenn du weiterhin E-Mails, Telefonanrufe und Web-Updates von ihm bekommen würdest?«