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Adrian schüttelte erneut den Kopf. »Aber wenn Leute hierherkommen, wenn sie hierher fliegen, werden sie die Wahrheit wissen«, sagte er.

»Deshalb wird als Erstes eine Ausgangssperre verhängt und die Flughäfen werden geschlossen«, erklärte Thomas und verdrehte die Augen. »Meinst du nicht, dass ich an alles gedacht und jede Einzelheit berücksichtigt habe?«

Thomas lachte. »Tu einfach, was ich dir sage, Adrian. Tu, was ich verlange, und alles wird nach Plan laufen.«

40

Evie folgte Linus zu dem Schrank, in dem er die Decken aufbewahrte, und nahm ein paar heraus. Lucas stand hinter ihr und sie gab ihm eine. Er blickte verlegen drein. »Danke«, sagte er. »Sind genug da?«

Evie sah ihn kurz an. Sie konnte seinen Duft riechen, konnte die Wärme seiner Haut spüren. Er sah ganz anders aus als der Mann, den sie in der Stadt gekannt hatte, wie ein völlig anderer Mensch. Aber nicht wie ein Fremder. Er wirkte älter als damals, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte; er hatte Falten um seine klaren blauen Augen und er sah erschöpft aus. Fast so, als hätte er sich aufgegeben, dachte sie bei sich.

Evie nickte. »Es sind genug«, sagte sie und räusperte sich. »Nimm noch eine. Es wird bestimmt kalt.«

Raffy stand ein paar Meter entfernt, zu weit weg, um zu verstehen, was sie sagten, aber Evie spürte seinen prüfenden Blick und seine Wut.

»Eine reicht.« Lucas rang sich ein Lächeln ab. »Und es tut mir leid, dass du hierherkommen musstest. Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist.« Ihre Blicke trafen sich, aber Lucas sah gleich wieder weg, als könnte er es nicht ertragen, sie anzusehen, als wollte er vergessen, was zwischen ihnen gewesen war.

Evie lächelte ebenfalls gezwungen. »Das muss dir nicht leidtun. Es ist nicht deine Schuld. Du hast nur versucht, ihn zu beschützen. Die Stadt zu beschützen.«

Lucas nickte. Er stand nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt, und keiner von beiden schien imstande zu sein, sich zu bewegen. »Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen«, sagte er plötzlich mit heiserer Stimme und sah ihr dabei direkt ins Gesicht. Evie spürte seinen bohrenden Blick, so als könnte er sie damit verschlingen, wenn sie nicht aufpasste.

»Ich dachte auch, ich würde dich nicht wiedersehen«, sagte sie leise. Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen und erinnerten sie daran, dass sie sich zusammennehmen musste. »Wie war es … Ich meine … in der Stadt? Was hast du …?« Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich sagen wollte. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere.

»Evie? Kommst du?« Es war Raffy, er kam auf sie zu. Lucas verschwand sofort und der Bann war gebrochen. Evie sah ihm noch nach und drehte sich dann wieder zu Raffy um. Ihr Herz raste.

»Ich komme«, sagte sie.

Alle suchten sich einen Platz zum Schlafen – Raffy und Evie in einem Bereich neben der Küche, Lucas vor dem Feuer, Linus und Benjamin am anderen Ende der Höhle. Lucas nahm an, dass sie noch reden wollten, aber kurz darauf drang aus ihrer Richtung ein leises Schnarchen an sein Ohr.

Lucas schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen. Er hatte Kopfschmerzen und brauchte dringend Schlaf, aber er fand keine Ruhe, weil er sich nicht entspannen und abschalten konnte. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Gehirn ganz fest verknotet, als würde jemand es zusammendrücken und das letzte bisschen Feuchtigkeit und Luft, das ihm Linderung verschaffen könnte, herauspressen. Seine Gedanken waren wie ein Knäuel, das er nicht entwirren konnte. Er konnte nicht klar denken. Seine Glieder waren schwer vor Müdigkeit, aber er war zu wach, um zu schlafen. Sein Geist war zu aktiv und sein Körper steckte voller Tatendrang.

Er hatte es sich leichter vorgestellt und sich für stärker und klüger gehalten. Aber das war er ganz und gar nicht. Wenn er Evie mit seinem Bruder zusammen sah, empfand er einen körperlichen Schmerz, so als würde ihm ein glühend heißer Schürhaken ins Auge gestoßen. Er hatte gehofft, er könnte gelassen bleiben, aber diese Hoffnung war in dem Moment zunichtegemacht worden, als er Evie erblickte, als er ihre Augen sah, die so voller Leben waren, und ihren fragenden, sprechenden Blick. Und jedes Mal, wenn er sie ansah, wusste er, dass er niemals Frieden finden, dass er niemals glücklich sein würde, solange sie mit jemand anderem zusammen war, solange sie mit seinem Bruder zusammen war.

Lucas holte tief Luft. Er musste schlafen.

Er dachte an das Krankenhaus und beschloss, wieder zu zählen, diesmal nicht, um wach zu bleiben, sondern um seine Gedanken von diesem Ort, von der Realität abzulenken. Er zählte bis tausend und dann wieder rückwärts. Und während er zählte, wurden seine Glieder immer schwerer. Als er schließlich in einen tiefen Schlummer sank, sah er Evies Gesicht neben sich, und er stellte sich vor, wie Evie ihn streichelte, ihn umarmte und ihm ins Ohr flüsterte, dass alles gut werden würde, dass er jetzt bei ihr sei und dass der ganze Schmerz für immer vorbei wäre.

Evie beobachtete Raffy, der am Rand ihres Nachtlagers saß und weder schlafen noch sie ansehen wollte. Und je länger sein wütendes Schweigen dauerte, desto weniger fühlte Evie sich imstande, es zu brechen. Es war, als wäre ihr der Gesprächsstoff ausgegangen, aber das war nicht der Fall. Es gab unzählige Dinge, über die sie gern gesprochen hätte, aber sie konnte einfach nicht anfangen, denn wenn sie es täte, könnte sie nicht mehr aufhören, und dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Also hatte sich Evie in ihr provisorisches Bett gelegt und Raffy gesagt, dass sie müde sei. Er hatte sie böse angesehen, war langsam aufgestanden, hatte sich ausgezogen und sich ans Fußende des Bettes gesetzt. Und dort saß er jetzt seit einer Stunde. Evie konnte nicht schlafen, und Raffy rührte sich nicht von der Stelle. Sie wusste, dass er sich quälte, dass er wütend war über den Verlust der Siedlung, wütend auf die Spitzel, auf Lucas, auf Linus. Und sie wusste, dass es ihre Aufgabe war, ihm zu helfen. Er musste sich aussprechen und die Gedanken loswerden, die ihm gerade durch den Kopf gingen. Bisher war sie immer sein Resonanzboden gewesen, seine Vertraute, die ihn beruhigt und die ihm bestimmte Dinge erklärt hatte. Aber jetzt fand sie nicht die richtigen Worte, um ihm seine Verwirrung und seine Angst zu nehmen. Ihr schossen immer nur stumme Bilder von Lucas durch den Kopf, ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Herz schlug schneller. Jedes Mal, wenn Raffy sie ansah, wurde sie rot, sie hatte Schuldgefühle, und sie war wütend, weil Raffy so stur, so unmöglich war, wenn es um seinen Bruder ging.

»Raffy«, sagte sie schließlich, weil sie wusste, dass nur sie ihn aus der Sackgasse herausführen konnte, und weil sie wusste, dass Raffy nicht als Erster etwas sagen würde. »Raffy, komm ins Bett. Sei nicht mehr wütend. Lucas ist gekommen, weil du in Schwierigkeiten warst. Und deshalb sind auch alle anderen hier. Die Siedlung existiert nicht mehr. Das ist schlimmer als die Sache mit dir und Lucas. Das ist viel wichtiger.«

Raffy wollte etwas erwidern, doch er überlegte es sich anders. Er erhob sich mit gequältem Blick. »Du kapierst es nicht, oder? Nach der ganzen Zeit kapierst du es immer noch nicht.«

»Was?«, fragte Evie unsicher.

Raffy schüttelte den Kopf. »Egal. Weißt du was? Es spielt keine Rolle mehr. Ich will jetzt schlafen.«

Er legte sich ins Bett, das Gesicht von Evie abgewandt, und zog die Decke über sich. Evie schlug die Decke zurück.

»Offenbar spielt es doch eine Rolle«, sagte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sagte sie sich immer wieder, aber es half nichts. »Also«, sagte sie kurz und bündig und hörte sich dabei an wie eine Lehrerin, obwohl Mitgefühl und Unterstützung eigentlich angebrachter gewesen wären. »Was genau hat Lucas denn Schlimmes getan? Abgesehen davon, dass er sich ein Leben lang verstellt hat, um dich zu beschützen? Abgesehen davon, dass er mehrmals alles riskiert hat, um dir das Leben zu retten? Was hat er so Schlimmes getan?« Raffy knurrte, und Evie rückte ein Stück von ihm weg. »Ich wünschte, du wärst nicht so verbohrt«, sagte sie. »Lucas ist kein schlechter Kerl. Ich verstehe nicht, warum du das nicht einsiehst.«