»Weil er schlecht ist«, sagte Raffy plötzlich, setzte sich auf und sah Evie finster an. »Du bist diejenige, die das nicht einsieht.«
»Dann sag mir, warum«, bat Evie verzweifelt. »Nenn mir einen triftigen Grund, warum er so schlecht ist.«
Raffy sah sie an und sagte dann kopfschüttelnd: »Es hat keinen Sinn. Es ist sowieso zu spät. Er hat getan, was er sich vorgenommen hat.«
»Was denn?«, sagte Evie, und ihre Stimme klang mindestens eine Oktave höher als sonst. »Was hat er getan? Was?«
Aber Raffy gab keine Antwort. Er legte sich wieder hin, drehte Evie den Rücken zu und zog sich das Kissen über den Kopf. Minuten später hörte Evie ihn tief atmen, ein Zeichen, dass er schlief.
Evie starrte ihn empört an. Wie konnte er nur so ruhig daliegen und schlafen? Sie zitterte am ganzen Leib vor Wut. Wie konnte Raffy nur so unvernünftig sein? So unbeweglich? So … stur?
Je länger sie ihn beobachtete, desto wütender wurde sie. Sie musste sich beruhigen und den Kopf freibekommen, damit sie endlich schlafen konnte. Sie wusste, dass er sie brauchte; er würde nicht eher ruhen, als bis sie verheiratet wären oder weit weg von allen anderen lebten. Aber im Moment bekam sie Schweißausbrüche bei dem Gedanken, mit ihm zusammen zu sein, nur mit ihm und für immer, und ihr stockte der Atem. Sie musste nach Luft schnappen, so als würde ihr allmählich die Sauerstoffzufuhr abgedreht.
Ihr war genauso zumute wie damals, in der Stadt, als sie Lucas heiraten sollte. Damals hatte sie gedacht, dass Raffy der einzige Mensch auf der Welt sei, den sie gernhatte.
Sie schloss die Augen. War das wirklich sie? War sie unfähig, glücklich zu sein oder Liebe zu geben? Sie atmete tief aus, machte die Augen wieder auf, erhob sich von ihrem Lager und tappte vorsichtig in die Küche. Vielleicht würde ein Glas Wasser helfen. Sie könnte sich ein paar Minuten ans Feuer setzen, sich aufwärmen und dabei vielleicht ihre düsteren Gedanken und ihre Wünsche vergessen. Sie war wütend auf Raffy, aber ihr war klar, dass es im Grunde nicht seine Schuld war. Sie war wütend auf sich selbst und auf die ganze Welt. Aber das würde nicht ewig dauern. Sie würde sich auch wieder beruhigen und dann wäre alles wieder gut.
Evie konnte Linus und Benjamin sehen, die am anderen Ende der Höhle schliefen. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und ging hinüber zum Feuer, um sich zu wärmen und sich zu beruhigen. Doch als sie näher kam, sah sie, dass Lucas beim Feuer unter einem Stapel Decken schlief. Sie wusste nicht recht, warum sie es tat, aber sie ging zu ihm hinüber und hockte sich nahe bei seinem Schlafplatz auf den Boden. Sie betrachtete ihn eingehend, sein Gesicht, den Verband um seinen Kopf, seinen Arm, seine Hand. Er sah so ruhig aus und so friedlich. Sie stellte sich ihn im Lager der Spitzel vor, voller Furcht, aber dennoch ruhig und besonnen, wie er es immer war. Und während sie ihn ansah, wurde ihr bewusst, dass sie ihn immer nur sehr kontrolliert erlebt hatte. Er war für alle immer der Starke, der die Führung übernahm. Sie hatte ihn noch nie so verletzlich gesehen und sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Ohne lange nachzudenken, streckte sie die Hand aus und legte sie ganz vorsichtig auf seine Hand. Gegen seine Hand wirkte ihre selbst nach einem Jahr in der Siedlung noch immer schmal und zerbrechlich. Sie ließ ihre Hand ein paar Sekunden lang auf seiner ruhen und spürte die Wärme seiner Haut. Dann zog sie ihre Hand vorsichtig wieder weg. Sie wusste, dass sie nicht hier sein sollte. Aber ob es nun Absicht war oder nicht, es hatte funktioniert. Es hatte sie beruhigt, hier bei Lucas zu sitzen, und sie war jetzt bereit, schlafen zu gehen. Während sie zusah, wie sich seine Brust hob und senkte, wurde auch ihr Atem ruhiger, und sie war nicht mehr so durcheinander. Als sie vorsichtig aufstand, schlug Lucas die Augen auf. Evie wurde rot und sah ihn besorgt an. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Schlaf weiter.«
Aber Lucas schüttelte den Kopf und schaute ihr direkt in die Augen. »Geh nicht«, flüsterte er. »Bleib da.«
Evies Nackenhärchen stellten sich auf, und sie bekam eine Gänsehaut, als sie sich wieder setzte.
»Wie geht es Raffy?«, fragte Lucas leise.
Evie lächelte halbherzig. »Er schläft«, sagte sie. »Er ist wütend auf dich. Wütend auf alles.«
Lucas lachte gepresst. »Gut, dass er schläft. Und was er über mich denkt, ist unwichtig. Wenn das alles hier vorbei ist, kann er ja mit Benjamin zurückgehen. Und du …« Er zögerte und räusperte sich. »Ich meine, ihr könnt beide mit ihm gehen. Ihr könnt heiraten, wie geplant.«
Evie nickte bedächtig, ihre Blicke trafen sich, und sie konnte den Blick nicht abwenden. Sie entdeckte etwas in seinen Augen, das ihr Hoffnung und Angst zugleich machte, etwas, das den Anfang von etwas und das Ende von etwas anderem bedeuten konnte, etwas, das alles zum Ausbruch brachte, was sie schon seit Langem gefühlt hatte.
»Vielleicht«, sagte sie, noch bevor sie die Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, verarbeiten konnte, und ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein.
»Vielleicht?« Lucas runzelte die Stirn und setzte sich auf.
»Vielleicht«, flüsterte Evie und biss sich auf die Lippen.
Er streckte die rechte Hand aus, fasste sie am Kinn und streichelte mit dem Daumen über ihre Wange. »Du hast es verdient, dass du endlich Frieden findest«, sagte er und sah sie so forschend an, dass sie den Blick abwenden musste.
»Nein«, meinte sie kopfschüttelnd. »Nein, Lucas. Ich habe gar nichts verdient.« Ihre Hand berührte den Verband um seinen Kopf. »Was ist passiert?«
»Linus hat mich von einem Felsvorsprung gestoßen«, erwiderte er mit einem Achselzucken.
Evie entfernte den Verband, strich mit dem Daumen über die Wunde und spürte die rauen Wundränder. »Tut das weh?«
»Nicht besonders«, sagte Lucas mit kaum vernehmlicher Stimme.
Evie nickte. Ihre Hand glitt langsam nach unten zu seinem Nacken. Sie wollte ihm beweisen, dass es neben Schmerz und Leid auch Glück und Freude gab. Er sollte wissen, dass es zumindest einen Menschen gab, der ihn so sah, wie er wirklich war.
»Du solltest wieder zu Raffy gehen«, meinte Lucas mit heiserer Stimme. »Er wartet bestimmt schon auf dich.«
»Nein«, sagte sie, und dabei wurde ihr klar, dass sie es schon lange gewusst hatte. Raffy war der Junge, mit dem sie aufgewachsen war, aber er war nicht der Mann, den sie liebte. Nicht mehr. »Du solltest zu Raffy gehen«, wiederholte Lucas atemlos, während Evie seine Arme um ihre Taille legte und sich an ihn presste. In jeder Berührung zeigte sich sein Verlangen nach ihr.
Sie schüttelte den Kopf, strich Lucas mit der Hand über das Gesicht, fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare und stöhnte, als ihre Lippen sich trafen. Ihr ganzer Körper brannte vor Sehnsucht und Verlangen und sie wurde fast überwältigt von ihren Gefühlen.
»Evie«, hörte sie Lucas flüstern. »Evie, Evie …«
Wieder und wieder sagte er ihren Namen, als er sie an sich zog und mit den Lippen ihr Gesicht und ihren Hals liebkoste. Während Evie sich an ihn klammerte und ihren Körper an seinen presste, war ihr klar, dass sie sich ihm ganz hingeben würde und dass sich alles für immer verändern würde.