»Mir ist niemand gefolgt«, erklärte Benjamin kategorisch. »Da bin ich mir sicher. Könnten sie uns nicht auf andere Weise entdeckt haben?«
Linus ging unruhig auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt. »Nein. Ich meine, ja, offenbar schon. Aber nein, es ist unmöglich, dass jemand einfach hier hereinkommt und Raffy mitnimmt, ohne dass wir etwas davon mitbekommen …«
»So oder so, wir müssen ihn finden«, sagte Lucas. »Ich werde ihn finden. Ich werde mich auf den Weg machen. Sie können noch nicht weit sein.«
»Du gehst nirgendwohin«, erklärte Linus mit zu Schlitzen verengten Augen.
»Doch«, erwiderte Lucas mit entschlossenem Blick. »Wir können nicht warten, bis du dir einen Plan ausgedacht hast. Raffy ist in Gefahr und ich werde ihn suchen. Ich werde meinen Bruder finden.«
»Nein, Lucas«, sagte Evie ängstlich. »Vielleicht warten sie da draußen.« Es waren nicht die Spitzel gewesen. Raffy war nicht deswegen verschwunden. Das sagte ihr ihr Bauchgefühl. Er hatte etwas gemerkt. Irgendwie hatte er es herausgefunden. Aber sie durfte nichts sagen, weil sie wusste, dass niemand ihr die Schuld geben würde; sie würden Lucas dafür verantwortlich machen.
Lucas kam zu ihr herüber und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, doch dann schien er sich anders zu besinnen. »Wenn die Spitzel Raffy geholt hätten, hätten sie uns alle mitgenommen«, meinte er mit leicht erstickter Stimme. »Sie waren es nicht, da bin ich mir sicher.«
Und als er ihr in die Augen sah, wusste sie, warum er seinen Bruder suchen wollte. Er glaubte auch nicht, dass sie Raffy geholt hatten. Lucas wusste genauso gut wie Evie, dass sie beide für sein Verschwinden verantwortlich waren und nicht die Spitzel; dass er von sich aus weggelaufen war. Und Evie wusste auch, dass Lucas sich nie damit abfinden würde, wenn sie ihn nicht heil zurückbrachten. Keiner von ihnen würde sich damit abfinden.
»Wir werden alle gehen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wir werden uns verteilen und suchen. Vielleicht ist er gegangen, weil … weil wir uns letzte Nacht gestritten haben. Wenn wir alle gehen, werden wir ihn finden …« Sie warf Linus und Benjamin einen flehenden Blick zu, aber die Gesichter der beiden waren wie versteinert.
»Warum sollte er gegangen sein?«, fragte Linus. »Die Spitzel sind hinter ihm her, und er weiß genau, dass er ihrem Angriff schutzlos ausgesetzt ist, sobald er die Höhle verlässt. Warum also sollte er von hier weggehen?«
Evie sah ihn herausfordernd an. Sie würde ihre Schuld annehmen und ihren Kummer ertragen, aber sie würde nicht zulassen, dass man Lucas dafür verurteilte oder ihm allein die Schuld gab. »Sie wissen, dass er nicht hier sein wollte. Er wollte wieder in die Siedlung zurück.«
»Die Siedlung existiert nicht mehr«, sagte Benjamin und ging zu ihr. »Und er würde nicht ohne dich gehen. Evie, gibt es etwas, was du uns verschwiegen hast?«
Evie sah hinüber zu Lucas, aber der schüttelte den Kopf. »Da gibt es nichts«, erklärte er bestimmt. »Raffy war doch noch da, als du dich wieder schlafen gelegt hast, oder, Evie?«
Evie nickte. Ihr wurde ganz heiß, weil alle Augen auf sie gerichtet waren.
»Dann lasst mich gehen und ihn suchen, bevor die Spitzel ihn finden. Bevor sie …«
»Ihn töten?«, sagte Linus leise. »Das würden sie nicht tun, Lucas. Wenn sie ihn tatsächlich finden, werden sie ihm kein Haar krümmen. Sie brauchen ihn. Wenn sie ihn finden, werden sie ihn in die Stadt bringen.«
»Dann werde ich hier nach ihm suchen, und wenn ich ihn nicht finde, gehen wir in die Stadt«, erklärte Lucas und rannte zum Ausgang.
»Zuerst werden wir ihn hier suchen«, verbesserte Evie ihn und lief ihm nach. Als sie Schritte hörte und sich umdrehte, sah sie, dass Linus und Benjamin hinter ihr herkamen.
»Wir suchen zehn Minuten. Nicht länger«, meinte Linus schroff. »Obwohl es wenig Sinn hat. Wenn die Spitzel ihn geschnappt haben, ist er schon weit weg, und wenn er von sich aus gegangen ist, dann hat er ein paar Stunden Vorsprung.«
»Warum suchen wir dann überhaupt?«, fragte Benjamin, während sie aus der Höhle kletterten.
»Weil Lucas und Evie sich sonst vor lauter Wut und Schuldgefühlen den Kopf zerbrechen und niemandem von Nutzen sind«, meinte Linus achselzuckend.
Evie warf ihm einen Blick zu und hielt plötzlich inne. »Was ist das?«, fragte sie. Von draußen drang ein lautes Dröhnen zu ihnen, und Lucas blieb wie angewurzelt stehen. Auf einmal gab es einen so starken Sog, dass Lucas sich an der Höhlenwand festhalten musste, damit er nicht umgeweht wurde.
»Ein Hubschrauber«, rief Linus und eilte zu Lucas.
»Ein was?«
»Ein Fluggerät«, erklärte Benjamin und griff nach Evies Hand. »Evie, komm zurück. Komm mit mir.«
Evie sah, wie Lucas und Linus gegen den Lärm des Hubschraubers anschrien, und schließlich rannten sie zu ihr und Benjamin zurück. Lucas’ Gesicht war bleich vor Zorn, und Linus wirkte so ängstlich, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.
»Zurück«, schrie er. »Zurück in die Höhle. Schnell!«
Alle kletterten wieder ins Innere der Höhle und Linus warf einen verzweifelten Blick in die Runde. »Sie haben uns entdeckt«, sagte er und kratzte sich am Kopf, als könnte er so eine Antwort finden. »Ich weiß nicht, wie, aber sie haben uns gefunden.«
»Linus«, meinte Benjamin. »Sie wissen zwar, wo wir sind, aber nicht, wie man hier reinkommt. Du hast mir viel beigebracht über Höhlen, auch über die Struktur komplexerer Höhlensysteme. Es würde Stunden, vielleicht sogar Tage dauern, bis man herausfindet, wie man hier reinkommt. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns erst einmal beruhigen und uns dann überlegen, was wir tun sollen.«
Linus nickte und begab sich zu seinen Computern.
»Ich muss Dateien löschen«, sagte er. »Ich muss meine Arbeit schützen.«
»Deine Arbeit schützen?« Lucas starrte ihn ungläubig an. »Und was ist mit Raffy?«
»Dafür ist es jetzt zu spät«, meinte Linus, ohne aufzublicken. »Sie haben Raffy. Das weißt du genauso gut wie ich. Sonst wären sie nicht draußen vor der Höhle. Entweder haben sie ihn dort entdeckt, oder sie haben ihn unterwegs aufgelesen und herausgefunden, wo er herkam. Ich kann nicht zulassen, dass sie an diese Informationen kommen. Außerdem wissen wir, dass sie Raffy nichts tun werden, bis er getan hat, was sie von ihm verlangen. Also, lass mich meine Arbeit machen, und dann gehen wir los und holen ihn zurück, okay?«
Lucas schwieg. Evie streckte die Hand aus, aber er nahm sie nicht.
»Kann ich helfen?«, fragte Benjamin und hockte sich neben Linus.
»Weißt du, wie man eine Festplatte löscht?«
Benjamin zuckte die Achseln. »Ich kann es versuchen«, sagte er, zog sich einen Stuhl heran und machte sich an die Arbeit.
»Lucas, pack das Nötigste zusammen, nur für alle Fälle«, knurrte Linus.
Lucas sah ihn herausfordernd an und machte sich dann auf die Suche nach ein paar Taschen. Evie wollte ihm folgen, überlegte es sich dann aber anders und ging zurück zu dem Schlafplatz, den sie mit Raffy geteilt hatte. Ihre Reisetasche war noch da, aber Raffys Tasche war weg. Wenn die Spitzel ihn geschnappt hatten, dann nur deshalb, weil sie ihn denen in die Arme getrieben hatte.
Evie griff in die Reisetasche, nahm etwas heraus, steckte es in ihre Jackentasche und ging wieder in die Küche, wo Lucas Essensvorräte und Wasser einpackte.
»Hi«, sagte er, ohne sie dabei anzusehen. Dann streckte er die Hände aus und legte sie ihr auf die Schultern. »Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist, oder? Ich bin schuld. Ich hätte nicht herkommen sollen – ich hätte Linus allein gehen lassen sollen. Aber ich werde keiner Menschenseele sagen, was passiert ist. Niemals. Raffy braucht dich. Das weiß ich jetzt – er braucht dich, und ich habe versprochen, ihn zu beschützen. Und wenn das bedeutet, dass …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken und er räusperte sich. »Ihr beide könnt glücklich werden, wenn er zurückkommt. Denn wir bringen ihn zurück. Wir finden ihn. Wir …«