»Natürlich werden wir glücklich.« Evie nickte, doch sie hatte Tränen in den Augen. Sie versuchte sie wegzuwischen, aber es hatte keinen Zweck. Alles, was sie spürte, war die Uhr in ihrer Tasche, die Uhr, die sie sich so mühsam zurückgeholt hatte, die Uhr, die ihr so viel und die Raffy so wenig bedeutete. Sie nahm sie aus der Tasche und drückte sie Lucas in die Hand. Erstaunt und völlig verwirrt starrte er auf die Uhr.
»Aber das ist Raffys Uhr«, sagte er.
Evie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie und schluckte. »Er wollte sie nicht. Sie gehört dir, Lucas. Du musst sie nehmen.«
Sie hatte keine Ahnung, ob Lucas sie überhaupt verstand, aber er behielt die Uhr. Er legte sie nicht an, und dafür war Evie ihm dankbar, obwohl sie nicht recht wusste, warum.
Schließlich nahm Lucas die Tasche mit dem Proviant, und alle versammelten sich um Linus, der noch immer am Computer saß und wie wild tippte.
»Los«, drängte Lucas. »Wir müssen gehen.«
»Ich weiß nicht«, meinte Linus stirnrunzelnd. »Der Hubschrauber ist immer noch da draußen. Wenn sie Raffy haben, warum bringen sie ihn dann nicht in die Stadt?«
»Weil sie ihn gar nicht haben«, sagte Evie mit einem Hoffnungsschimmer im Blick. »Weil sie ihn immer noch suchen. Vielleicht hat er den Hubschrauber gehört und ist noch irgendwo in der Höhle. Wir müssen los und ihn suchen.«
Benjamin schüttelte den Kopf. »Hier drin sind wir sicher. Wir müssen zusammenbleiben.«
»Und was sollen wir dann tun? Warten?«, fragte Lucas ungeduldig. »Wenn Evie recht hat, dürfen wir ihn nicht da draußen lassen, wo die Spitzel nach ihm suchen.«
»Sie suchen gar nicht nach mir«, sagte plötzlich eine Stimme.
Alle drehten sich um und sahen Raffy, der mit verlegenem Blick auf sie zukam.
»Raffy!«, rief Evie und lief ihm entgegen. »Raffy, wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
Aber Raffy sah sie nur seltsam an, und im selben Moment bemerkte Evie, dass er nicht allein war. Aus dem Schatten trat ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem war ihr sofort klar, dass er zu den Spitzeln gehörte.
»Sie?«, stieß Benjamin hervor. »Sie …« Er sprang auf und machte einen Satz nach vorn, aber Linus packte ihn gerade noch rechtzeitig und hielt ihn zurück. Evie sah, dass Benjamin zitterte und dass sein Gesicht aschfahl geworden war.
»Ja, ich«, erwiderte der Mann mit einem Lächeln. »Hallo, Devil. Es ist lange her, aber ich wusste, dass ich dich eines Tages kriegen würde.«
Mit einem breiten Grinsen wandte er sich an Evie. »Thomas Benning. Schön, dich kennenzulernen. Und du …« Er drehte sich zu Linus um. Linus kniff seine blauen Augen zusammen und sah sich das Gesicht des Mannes genauer an. Dann schnappte er plötzlich nach Luft und schüttelte ungläubig den Kopf. Benning. Jetzt erinnerte er sich wieder an den Namen.
Thomas lachte. »Schön, dich wiederzusehen, Linus. Es wird Zeit, dass du deinen Vertrag erfüllst, findest du nicht?«
43
»Sie kennen diesen Mann?«, sagte Evie an Linus und dann an Benjamin gewandt. Die beiden schwiegen, fassungslos und mit angstverzerrtem Gesicht. Evie hatte die beiden noch nie so verstört gesehen und sie bekam eine Gänsehaut. Sie drehte sich zu Thomas um und sah einen schlanken Mann mit kurzem silbergrauen Haar und einem unauffälligen Gesicht vor sich. Das war niemand, der aus der Menge herausstach. Gehörte er tatsächlich zu den Spitzeln? Wie konnte jemand so böse sein? Sie erinnerte sich, dass man ihnen in der Stadt erklärt hatte, alle Menschen, die noch ihre Amygdala hätten, seien böse und zu allem fähig, das Böse sei allgegenwärtig und warte nur auf eine Gelegenheit, um zutage zu treten. Aber Evie hatte nie wirklich geglaubt, dass ein Kind bereits mit bösen Gedanken auf die Welt kam und dass ein guter Mensch ganz einfach auf Knopfdruck zu einem bösen Menschen werden konnte. Aber wenn sie Thomas so ansah, wurde ihr bewusst, dass zumindest manche Menschen dazu imstande waren, wirklich schlimme Dinge zu tun. Und er gehörte dazu. Aber sein Blick verriet, dass es ihm nicht einmal etwas ausmachte.
»Sie sind immer noch hier?«, sagte Benjamin mit zitternder Stimme.
»O ja, ich bin noch hier«, meinte Thomas lächelnd.
»Woher kennst du diesen Mann?«, fragte Linus mit erstickter Stimme, die kaum wiederzuerkennen war.
Benjamin kniff die Augen zusammen. »Er ist böse, und ich hatte das Pech, dass sich unsere Wege gekreuzt haben.«
Thomas lachte. »Wie hätten sich unsere Wege je kreuzen sollen? Du wurdest ausgewählt, weil ich dich für nützlich hielt. Du warst nichts weiter als das Ergebnis eines Forschungsprojekts. Und du hast dich als nutzlos erwiesen.«
Linus sah Benjamin an. »Wann hast du ihn kennengelernt? Wann?«
»Vor Beginn der Schreckenszeit«, sagte Benjamin, ohne Thomas aus den Augen zu lassen. »Er hat sie ausgelöst. Ich sollte es für ihn tun. Ich sollte die Menschen in den Krieg führen.«
»Ausgelöst?«, spottete Thomas. »Ich habe mehr getan als das. Ich habe sie erschaffen. Jeden Schritt inszeniert.«
»Du kannst keinen globalen Krieg inszenieren«, meinte Linus erbost.
»Vielleicht nicht.« Thomas lächelte künstlich. »Aber vielleicht kannst du es. Denk dran, es zählt nur das, was nach Ansicht der Menschen passiert, nicht das, was tatsächlich passiert. Wahrnehmung ist alles. Das hast du mir beigebracht.«
Linus starrte ihn an und runzelte die Stirn.
»Warum haben Sie nichts dagegen getan?«, fuhr Evie Benjamin plötzlich an. »Wenn Sie wussten, was er vorhatte, warum haben Sie ihn dann nicht aufgehalten?«
Benjamin holte tief Luft. »Diese Frage stelle ich mir selbst jeden Tag, aber ich habe immer noch keine Antwort gefunden. Die einzige Erklärung ist, dass ich Angst davor hatte, was er tun könnte. Er konnte die Fakten verändern und Dinge ungeschehen machen. Außerdem hatte er überall Freunde, sogar bei der Polizei. Ich war damals nicht stark genug. Ich …« Er atmete tief aus. »Ich hatte meine eigenen Probleme.«
»So kann man es auch ausdrücken«, meinte Thomas achselzuckend. »Genau genommen musstest du ins Gefängnis, weil du ein gewalttätiger Schläger warst.«
Benjamin ging auf Thomas zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Ich war im Gefängnis, weil ich mich gestellt habe, um Ihnen zu entkommen«, sagte er leise. »Weil ich erkannt habe, dass ich, wenn ich die Wahl hätte, nicht auf Ihrer Seite sein wollte. Weil ich geradestehen wollte für das, was ich getan hatte. Weil ich noch einmal von vorn anfangen wollte.«
Thomas verzog das Gesicht. »Wie du meinst, Devil«, sagte er augenzwinkernd.
»Benjamin. Mein Name ist Benjamin.«
Sofort trat er einen Schritt zurück und Lucas packte Thomas im Genick.
»Geben Sie meinen Bruder heraus«, sagte er mit düsterem, drohendem Ton. »Lassen Sie Raffy gehen oder Sie werden es bereuen.«
»Ach wirklich? Das bezweifle ich«, meinte Thomas spöttisch und zuckte die Achseln. »Du kannst deinen Bruder haben«, sagte er und warf einen Blick in Raffys Richtung, »aber nur, weil er seinen Zweck erfüllt hat. Raffy und ich hatten nämlich eine Abmachung, stimmt’s, Raffy?« Dann wandte er sich wieder an Lucas. »Er war wirklich eine überaus große Hilfe.«