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Plötzlich veränderte sich Linus’ Gesichtsausdruck. Er wurde ganz ruhig und sah Thomas in die Augen. »Ich … es geht nicht«, sagte er leise. »Ich habe den Code geändert. Das System kann nicht neu gestartet werden. Es ist tot.«

»Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest«, meinte Thomas achselzuckend. »Dann gehen wir jetzt zu Plan B über. Eigentlich meine bevorzugte Variante, wenn auch etwas riskant.«

»Und wie sieht dieser Plan aus?«, fragte Linus.

»Du kommst mit mir«, sagte Thomas lächelnd, »und baust mir ein neues. Denn ich kriege das System so oder so. Das bist du mir schuldig, Linus. Und jetzt bin ich hier, um mir zu holen, was du mir schuldest.«

44

Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Benjamin das Wort. »Linus geht nirgendwohin«, sagte er mit drohender Stimme und machte ein paar Schritte auf Thomas zu. Er überragte ihn um Haupteslänge.

»Doch, ich werde gehen«, erklärte Linus. Benjamin, der immer noch Raffy festhielt, drehte sich zu ihm um.

»Nein«, sagte er.

»Doch.« Linus streckte die Hand aus, berührte Benjamins Arm und drückte ihn. Dann begegnete er Evies Blick und einen Moment lang hielt er ihm stand. Dann schaute er weg. »Ich muss gehen«, sagte er. »Verstehst du das denn nicht? Wegen mir hat das alles angefangen. Ich muss mit Thomas gehen.«

»Einfach so?«, fragte Evie mit brüchiger Stimme. »Nach allem, was er getan hat?«

Sie spürte, dass Lucas hinter ihr stand. Sie fasste nach hinten, und sofort nahm Lucas ihre Hand, hielt sie fest und drückte sie. Am liebsten hätte sie sich an ihn gelehnt, sich von ihm umarmen lassen und so getan, als ob nichts anderes mehr wichtig wäre, nur sie beide, eng aneinandergeschmiegt. Aber sie tat es nicht. Das andere war eben doch wichtig, ziemlich wichtig sogar. Sie und Lucas würden später Zeit füreinander haben. Später …

Linus ging immer noch auf und ab, machte einen verwirrten Eindruck und ließ den Blick umherschweifen, offenbar unfähig, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. »Aber ich verstehe jetzt, dass Thomas und ich noch etwas zu erledigen haben. Darum ging es die ganze Zeit. Von Anfang an. Ich hätte es erkennen müssen. Ich habe auf alles geachtet, nur nicht auf das, was wichtig war … Auf mich selbst. Ich hätte … Und wir haben es abgeschaltet. Wir …« Er starrte Thomas an. »Wie hast du das gemacht? Wie hast du der Welt weisgemacht, dass England nicht mehrt existiert?«

Thomas lächelte. »So viel radioaktiver Abfall«, meinte er mit einem Achselzucken. »Eine Schande. Bis zur Schreckenszeit war es ein großartiges Land.«

»Und die hat es sonst nirgends gegeben?«, fragte Linus.

»Wovon redest du?«, warf Benjamin ein. »Was hat es sonst nirgends gegeben?«

»Die Schreckenszeit«, hauchte Linus.

Benjamin machte einen völlig verstörten Eindruck. »Ich weiß nicht, was du meinst. Die Schreckenszeit war weltweit. In ganz Europe, überall, haben sich die Menschen gegenseitig umgebracht. Sie haben Bomben geworfen. Die Japaner haben halb China ausgelöscht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Du hast das gesehen, was du sehen solltest, so wie alle«, sagte Linus und drehte sich zu Thomas um. »Eine totale Nachrichtensperre, nicht?«

Thomas’ Gesicht hellte sich auf. »Es war einfach genial. Und ich durfte keiner Menschenseele etwas davon erzählen. Kannst du dir das vorstellen? Die ganze Arbeit! Und keiner hatte eine Ahnung.«

»Moment«, sagte Benjamin mit tiefer, nachhallender Stimme. »Noch mal ganz langsam zum Mitschreiben. Linus, wovon redet er eigentlich? Was geht hier vor?«

Linus schüttelte den Kopf, als wollte er nicht antworten. Und Thomas lächelte. »Linus fängt gerade an zu begreifen, was ich geplant habe. Einen globalen Krieg, den es gar nicht gab. Ein Land, von dem die restliche Welt annahm, es sei durch Nuklearwaffen zerstört worden. Ein Land, das von sich glaubte, es würde die einzigen Überlebenden beherbergen. Das ist wirklich ziemlich brillant, wenn man so darüber nachdenkt.«

»Und wozu das alles? Wozu hast du so viele Menschenleben zerstört, Thomas?«, fragte Linus.

Thomas sah ihn verdutzt an. »Für das System natürlich«, sagte er. »Damit du das System aufbaust. Um es ganz groß herauszubringen. Ich war schon so dicht dran, Linus, wirklich. Und dann hast du den Stecker gezogen. Sehr ungünstig.«

Linus sah ihn ungläubig an. »Dann hast du die ganze Zeit dein Spielchen gespielt und keiner hat es gemerkt? Dein Geheimnis wurde nie gelüftet? Das ist beeindruckend.«

»Information ist alles«, meinte Thomas achselzuckend. »Es ist wirklich ganz einfach. Wenn du Informationen über die Menschen hast, gehören sie dir. Und mir gehören eine Menge Menschen. Du eingeschlossen. Aber vielleicht sollten wir jetzt wieder in die reale Welt zurückkehren, damit du tun kannst, was du schon vor langer Zeit hättest tun sollen.«

»Du willst mich von dieser Insel wegbringen?«

Thomas lachte. »Hast du es nicht kapiert? Diese Insel existiert nicht mehr, jedenfalls nicht für die anderen. Warte nur ab, Linus. Was du zu sehen bekommst, wird dich umhauen.«

Linus holte tief Luft. »Weißt du, Thomas, ich muss das erst mal verdauen, was du uns da erzählt hast.«

»Verstehe«, sagte Thomas mit glänzenden Augen. »Das Tragische ist nur, dass es außer euch niemand erfahren wird. Und wie es aussieht, werdet ihr es keinem erzählen dürfen. Und niemanden sehen dürfen.«

»Sieht so aus«, meinte Linus. »Aber wie wär’s, wenn wir uns ein bisschen ausruhen, bevor wir gehen? Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«

Thomas hob eine Augenbraue. »Davon halte ich nichts, Linus. Es ist Zeit zu gehen.«

Linus schüttelte den Kopf. »Thomas«, sagte er, »was du mir da gerade erzählt hast … Was ich glaube, verstanden zu haben … Was du mich gefragt hast … Mir geht so viel im Kopf herum. Ich glaube, wir brauchen alle eine Pause. Außerdem muss ich mich noch von meinen Freunden verabschieden. Also, trinken wir Tee. Nur eine Tasse, ja?«

Thomas starrte ihn ungläubig an. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

Linus schüttelte den Kopf. »Du hältst uns hier in Schach. Wir können nirgendwohin. Und ich bin bereit, mit dir zu kommen. Also lass mich erst noch einen Tee trinken. Du hast so lange gewartet, da kommt es jetzt auf ein paar Minuten auch nicht mehr an, oder? Lass uns wie zivilisierte Menschen miteinander umgehen, Thomas.«

Thomas sah Linus prüfend an, als suchte er in dessen Gesicht nach einem Hinweis, nach einem Anhaltspunkt. Dann gab er offenbar auf und zuckte die Achseln. »Okay«, sagte er. »Aber du hast recht, dass ihr nirgendwohin könnt. Denk dran, da draußen steht ein Hubschrauber, eine Armee von Männern wartet nur darauf, dass ich den Befehl gebe, hier reinzumarschieren und …« Er lächelte. »Nun, ich muss wohl nicht ins Detail gehen.«

»Nein«, erwiderte Linus. »Evie, willst du mir zur Hand gehen?«

Evie nickte zögernd und folgte Linus in die Küche. Thomas beobachtete die beiden mit Argusaugen, während sie das Teewasser aufsetzten, Tassen zusammensuchten und sie spülten, Teebeutel in die Teekanne hängten und das kochende Wasser darübergossen.

»Tief durchatmen«, flüsterte Linus Evie zu, als er merkte, wie aufgewühlt sie war. »Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.«

Doch Evie machte sich Sorgen, weil nichts gut werden würde – es würde nie wieder alles gut werden. Trotzdem rang sie sich ein Lächeln ab und versuchte, sich ganz normal zu verhalten, nicht so, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.