»Zucker?«, rief Linus.
»Für mich nicht«, sagte Thomas.
»Wollen wir uns nicht setzen?« Linus führte alle zu einem Platz hinter seinem Computer, wo Kissen auf dem Boden verteilt waren. »Es ist nicht gerade komfortabel«, meinte er, »aber wir können wenigstens versuchen, es uns ein bisschen bequem zu machen.«
Sie setzten sich hin, Evie neben Lucas, dann Benjamin und neben ihn Linus.
Ihnen gegenüber, ein paar Meter von Evie und Linus entfernt, saß Thomas. Raffy wurde immer noch von Benjamin festgehalten.
»Setz dich«, befahl Benjamin, und bei seiner dröhnenden Stimme fuhr Evie zusammen. Raffy setzte sich hinter Thomas, das Gesicht von der Gruppe abgewandt. Ab und zu wanderte sein Blick zu Evie, die sich alle Mühe gab, ihn nicht zu beachten.
»Also«, sagte Linus, an Thomas gewandt. Seine blauen Augen waren jetzt wieder ganz klar, und sein Gesicht wirkte entspannt. »Dann erzähl mal.«
»Erzählen? Was?«, fragte Thomas. Er blickte auf seinen Tee. »Komm, tauschen wir die Tassen«, befahl er Linus.
Linus zuckte die Achseln und tauschte die Tassen aus. »Ich will dich nicht vergiften. Ich bin doch nicht blöd.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Thomas lächelnd. »Also, was willst du wissen?«
»Alles«, sagte Lucas und sah ihn forschend an. »Von dem Moment an, als ich Infotec verlassen habe, bis jetzt.«
»Infotec?«, fragte Benjamin.
»Die Firma, für die wir gearbeitet haben. Nun, ich sage arbeiten. Ich habe dort nur ein paar Wochen ein berufsbegleitendes Praktikum gemacht«, erklärte Linus.
»I für Infotec?« Benjamin sah Thomas an. »Ihr Ring. Der, den der Polizist anhatte? Der Anstecker, den Sie mir gegeben haben?«
Thomas machte einen selbstzufriedenen Eindruck. »Das war meine Idee«, sagte er und nickte.
»Du warst ziemlich fleißig«, bemerkte Linus. »Du hast eine Menge getan.«
»Hab ich«, stimmte Thomas zu. »Ja, das habe ich wirklich. Aber ich hab es für dich getan. Für uns. Für das System. Das, was du wolltest. Was du nie für möglich gehalten hättest. Ich hab es getan, Linus. Alles.« Seine Augen funkelten. Der Blick eines Wahnsinnigen, dachte Evie und rutschte auf ihrem Kissen ein Stück zurück. Doch als sich Lucas’ Arm um ihre Taille legte, fühlte sie sich gleich sicherer.
»Also, erzähl uns alles«, sagte Linus ruhig. »Ich wette, es juckt dich schon in den Fingern, es endlich loszuwerden. Erzähl uns, was du getan hast.«
Thomas überlegte eine Weile und auf einmal strahlte er übers ganze Gesicht. »Aber du weißt ja, Linus, dass ich nur getan habe, was du gesagt hast.«
»Was ich gesagt habe?«, fragte Linus mit leiser Stimme.
»Natürlich!« Thomas grinste. »Du hast gesagt, du bräuchtest eine kleine Gemeinschaft, die ein System wollte, das sie kontrollierte. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Ich habe überlegt, ein paar Leute Schiffbruch erleiden zu lassen, aber das hätte nicht funktioniert; ich habe versucht, ob sie auf einen falschen Linus hereinfallen würden, aber es hat nicht geklappt. Und außerdem wollte ich nicht nur die perfekte Umgebung für den Aufbau deines Systems schaffen; der Rest der Welt sollte schließlich auch etwas davon haben. Die Schreckenszeit war die perfekte Lösung. Es gab eine kleine Gruppe Überlebender, die perfekte kleine Gemeinde für dich. Außerdem hat die Schreckenszeit überall Angst verbreitet. Und wenn die Menschen Angst haben, vergessen sie die Freiheit und wollen stattdessen lieber Kontrolle und Armeen, die sie beschützen. Die Welt ist jetzt bereit für dein System, Linus. Die Welt ist bereit, sich in unvorstellbarem Ausmaß kontrollieren zu lassen. Und rate mal, wer derjenige sein wird, der alles kontrolliert? Was meinst du, wer alles kontrolliert hat, seit du von Infotec weggegangen bist?«
Er trank einen Schluck Tee und schaute in die Runde. »Es war so einfach«, sagte er. »Unheimlich einfach.«
»Was war einfach?«, fragte Lucas steif.
»Die Schreckenszeit«, erwiderte Thomas. »Ich musste nur ein paar Streichhölzer anzünden und kurz darauf gab es einen Flächenbrand.«
»Meinen Sie damit meine Siedlung, die in die Luft gejagt werden sollte?«, fragte Benjamin mit erstickter Stimme. »Das Töten unschuldiger Menschen?«
Thomas zuckte die Achseln. »Das war ein Tiefschlag. Vergeudete Mühe. Aber das spielte keine Rolle bei dem großartigen Plan. Du warst nur einer von vielen, Devil. Du weißt, wie leicht es ist, eine Armee aufzustellen, wenn man weiß, was die Menschen wollen und wie sie sind, und wenn man ihre Verunsicherung, ihre Hoffnungen und ihre Ängste kennt. Die Menschen sind so leicht zu manipulieren, wenn man alles über sie weiß. Wirklich erbärmlich.« Er warf einen Blick auf Linus. »Darum geht es doch, nicht wahr? Lerne die Menschen kennen, und du kannst mit ihnen machen, was du willst. Du kannst sogar die ganze Welt kontrollieren!«
Linus lächelte ihn aufmunternd an. »Du hast also die Schreckenszeit in Gang gesetzt. Und was dann?«
Thomas verengte die Augen zu Schlitzen. »Ich erzähle dir doch nicht alles, Linus. Ich gebe nicht all meine Geheimnisse preis.«
»Okay«, meinte Linus achselzuckend. »Na gut. Aber was ist mit der Stadt? Da hast du doch bestimmt auch dahintergesteckt, oder?«
Jetzt erschien auf Thomas’ Gesicht ein breites Lächeln. »Oh, die Stadt«, sagte er mit glänzenden Augen. »Das war schon spitze. Ich wollte dich eigentlich direkt ansprechen, aber ich war zu nervös, weil ich Angst hatte, du würdest die Sache vielleicht anders sehen als ich oder du würdest deine Meinung ändern. Deshalb habe ich beobachtet und abgewartet. Ich habe dafür gesorgt, dass es dir gut geht, dass man sich um dich kümmert und dass du alles hattest, was du brauchtest. Ich habe dich die ganze Zeit im Auge behalten, Linus, und ich habe auf dich aufgepasst. Und dann, kurz nach dem Ende der Schreckenszeit, bin ich zufällig über Fisher gestolpert. Ich habe gesehen, wie du dich mit ihm getroffen hast. Ich habe schnell herausgefunden, was er dir vorgeschlagen hat und was für Pläne ihr beide hattet. Und ich habe die Stadt aufgebaut, Linus!«
Er hatte einen ganz kindlichen Gesichtsausdruck, und Evie erkannte plötzlich, warum. Er wartete auf Linus’ Zustimmung, darauf, dass der sagte: »Gut gemacht.«
»Aber du hast die Stadt nicht aufgebaut«, sagte Linus vorsichtig. »Das waren wir.«
»Ach, ihr habt die körperliche Arbeit geleistet«, meinte Thomas achselzuckend. »Aber ich habe im Hintergrund agiert. Ich habe es allen gesagt und habe dafür gesorgt, dass es überzeugend klang und dass Fisher sich angehört hat wie ein Guru und nicht wie ein Spinner. Ich habe sichergestellt, dass die Stadt Wasser und Nahrungsmittel hatte, eben alles, was sie brauchte. Ich habe für Generatoren gesorgt. Hast du dir je über die Ressourcen der Stadt Gedanken gemacht?«
Linus schüttelte den Kopf.
»Nein!«, sagte Thomas triumphierend. »Weil du, wie ich mir schon gedacht hatte, viel zu sehr mit dem Aufbau deines Systems beschäftigt warst. Ich habe die perfekte Umgebung geschaffen, Linus. Ich habe das Unmögliche möglich gemacht.«
»Und dann haben wir das System abgeschaltet. Und du hast Panik bekommen. Du hast deine Männer in die Stadt geschickt, damit sie es neu starten. Aber sie wurden entdeckt, stimmt’s? Von den jungen Leuten. Deshalb habt ihr sie alle umgebracht«, sagte Linus mit sehr ernster Stimme.
Thomas sah ihn erstaunt an. »Natürlich!«, meinte er aufgeregt. »Wir mussten es doch wieder in Gang bringen. Und dabei durften wir nicht gestört werden. Wir konnten niemanden gebrauchen, der Fragen stellt. Als das System noch in Betrieb war, hat niemand Fragen gestellt; niemand ist irgendwohin gegangen, wo er nicht hingehen sollte. Darum mussten wir sie loswerden.« Er lächelte in sich hinein. »Natürlich war der Bruder dafür. Er dachte, er könnte die Verschwundenen dazu benutzen, Angst zu schüren und Lucas zu stürzen. Vor allem das letzte Mädchen, mit dem du geflohen bist.« Er sah Lucas triumphierend an. »Der Bruder hat ihr Verschwinden als Beweis dafür benutzt, dass du ein Mörder bist.«