Lucas wurde rot vor Zorn.
»Es spielt so oder so keine Rolle«, meinte Thomas achselzuckend. »Du hast mich auf Umwegen zu Linus geführt, und das war alles, worum es mir gegangen ist. Wenn du willst, bist du wirklich schwer zu fassen, Linus.«
»Das ist immer so«, sagte Linus, und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen.
Mit leuchtenden Augen wandte sich Thomas zu ihm. »Da haben wir es! Ich bin ein Genie, das musst du zugeben.«
Linus nickte bedächtig. »Ein richtiges Genie.«
»So«, meinte Thomas und klatschte in die Hände. »Es ist zwar schön und gut, auf diese Weise an Informationen zu kommen, aber jetzt müssen wir wirklich gehen.«
»Und wo gehen wir hin?«, fragte Linus. »In dein Lager an der Küste?«
Thomas zog eine Augenbraue hoch. »Oh nein, während wir hier miteinander reden, wird es gerade aufgelöst.«
»Und wird dieser Landstrich jetzt wieder auf der Karte erscheinen?«
Thomas lachte. »Ich dachte mir, dass dir das gefallen würde. Aber du hast wirklich keine Ahnung, Linus. Mach dich auf was gefasst. Du wirst staunen, was ich dir zeigen werde. Richtig staunen.«
»Da wett’ ich drauf«, sagte Linus leise.
»Du gehst doch nicht wirklich, oder?«, wandte sich Benjamin an ihn. »Wir können diesen Kerl überwältigen. Wir können kämpfen.«
»Nein, das können wir nicht«, erklärte Linus rundheraus. »Nicht mehr. Er hat die Siedlung zerstört. Er wird auch die Stadt zerstören. Er wird alles zerstören.« Er sah Thomas an. »Aber wenn ich mit dir komme, lässt du die anderen frei. Du lässt sie in Ruhe. Verstanden?«
Thomas sah ihn eine Weile an und zuckte dann die Schultern. »Wie du willst.«
»Außerdem brauche ich meine Computer«, sagte Linus und sah sich um. »Ich brauche sie alle.«
Thomas lächelte. »Natürlich. Meine Männer werden sie holen.«
Linus nickte, erhob sich und ging zu seinem Computer. »Ich mache nur alles fertig«, sagte er und begann, die Geräte abzustöpseln und die Laptops zusammenzuklappen. Dabei bemerkte Evie, dass er an einem Computer seitlich etwas herausnahm. Dann schaute er zu ihr herüber, und während er um den Schreibtisch herumging, um ein weiteres Gerät abzuschalten, ließ er direkt neben Lucas’ Hand etwas auf den Tisch fallen. Blitzschnell legte Thomas seine Hand darüber, nahm es und steckte es in seine Hosentasche, ohne dass Thomas etwas davon mitbekam.
Thomas wandte sich an Benjamin. »Wünschst du dir manchmal, du würdest noch für mich arbeiten, Devil?«, fragte er, und seine Augen leuchteten.
Benjamin gab keine Antwort und blickte stur geradeaus.
»Nein«, meinte Thomas nachdenklich. »Nun, wahrscheinlich können wir nicht alle Visionäre sein.« Er stand auf. »Okay, ich bin so weit«, sagte er mit einem Blick auf Linus. »Gehen wir.«
Linus richtete sich auf. »Okay«, sagte er. »Ich will mich nur noch von meinen Freunden verabschieden.«
Thomas verzog das Gesicht. »Weißt du was?«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass wir sie hier lassen können. Ich hasse es, wenn etwas unerledigt bleibt. Wir steigen alle in den Hubschrauber, und deine Freunde werden … Nun, wir werden uns etwas einfallen lassen. Etwas Schmerzloses.«
»Sie haben gesagt, ich dürfte mit Evie weggehen«, meinte Raffy und starrte Thomas wütend an.
Thomas zuckte die Achseln. »Ich habe gelogen.«
Linus’ Gesicht war wie versteinert. »Du willst mich, also musst du die anderen freilassen. So lautet die Abmachung.«
»Wie wär’s damit: Du arbeitest mit mir zusammen oder ich werde sie alle töten. Ich finde, das ist ein besserer Deal«, meinte Thomas aalglatt. Benjamin packte Raffy fester am Genick, um zu verhindern, dass der sich auf Thomas stürzte.
Linus sah Thomas eine Weile an. »Sieht so aus, als hättest du mich drangekriegt«, meinte er schließlich.
»Ja.« Thomas lächelte. »Ja, das habe ich. Also, können wir gehen?«
Linus nickte schwerfällig und ging los. Als er an Lucas vorbeiging, flüsterte er ihm etwas zu. Keiner bemerkte etwas, außer Evie, die direkt hinter ihm war.
Lucas streckte die Hand nach hinten aus und sie ergriff sie. Als er sie zu sich hinzog, flüsterte er ihr ins Ohr: »Bei der Gabelung links halten, nicht rechts.« Obwohl sie nicht genau wusste, was er meinte, nickte sie ernst und tat so, als würde sie stolpern, damit Benjamin ihr aufhelfen und sie die Botschaft an ihn weitergeben konnte.
Linus ging voraus, dann folgten Lucas, Evie, Benjamin und Thomas; Raffy bildete das Schlusslicht. Als sie zum Ausgang der Höhle kamen, wandte sich Linus nach rechts. Lucas nahm die linke Abzweigung und verschwand sofort. Evie folgte ihm, doch noch bevor sie einen Schritt machen konnte, wurde sie von einer Hand gepackt. »Nein. Nein!« Es war Raffy. Er hatte einen Satz nach vorn gemacht und sie gepackt. Evie stieß ihn weg und schrie, er solle sie loslassen, aber es war zu spät. Thomas stand neben ihr, das Gesicht weiß vor Wut.
»Kommt her«, rief er seinen Männern zu, die jetzt am Eingang der Höhle auftauchten. »Kommt her und bringt die Gefangenen zum Hubschrauber.«
»Nein!«, schrie Evie, als mehrere bewaffnete Männer herunterstiegen und sie aus der Höhle zerrten. »Wo ist Lucas? Wo ist er?«
»Er ist in Sicherheit«, rief Linus ihr zu. Der Lärm des Hubschraubers übertönte ihn fast. Er streckte die Hand nach Evie aus, während man ihn in die seltsame, unheimliche Flugmaschine verfrachtete, in die auch Evie gezerrt wurde. »Tut mir leid. Tut mir leid, Evie …«
Nachwort
Lucas holte tief Luft und musterte die Frau, die ihm gegenübersaß. Amy Jenkins. Sie war die Erste, die ihn nach seiner Rückkehr in die Stadt interviewen durfte. Obwohl er sehr angeschlagen war, war ihm bewusst, dass er mit Clara an seiner Seite den Eindruck von Stärke und Siegesfreude vermitteln musste. Martha hatte ihn eigentlich noch ein paar Tage in Base Camp behalten wollen, um ihn gesund zu pflegen, aber er hatte abgelehnt. Nachdem er den ganzen Weg von Linus’ Höhle dorthin gerannt war, hatte er nur kurz etwas gegessen, bevor er mit Clara zur Stadt aufgebrochen war.
Es war eine triumphale Rückkehr. Nach einem kurzen Aufenthalt im Gefängnis wegen Mordverdacht hatte Claras Zeugenaussage zu seiner Freilassung geführt. Aufgrund von Linus’ Aufnahme, die alles wiedergab, was Thomas über die Stadt und über den Bruder gesagt hatte, wurde Letzterer verhaftet. Als der Inhalt des USB-Sticks, den Linus Lucas heimlich zugespielt hatte, den Menschen im Versammlungshaus vorgespielt wurde, reagierten sie mit bestürztem Schweigen, und alle, die früher an Lucas gezweifelt hatten, schluchzten vor Bedauern.
Natürlich bekamen sie nur einen Teil der Aufnahme zu sehen, nämlich den Teil, den Angel für Lucas bearbeitet hatte. Lucas wollte den Bewohnern der Stadt nicht jede Hoffnung nehmen und ihnen nicht solche Angst einjagen, wie er erdulden musste.
Amy lächelte ihn an, und Lucas hatte das Gefühl, als wäre sein letztes Interview mit ihr schon eine Ewigkeit her.