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Jetzt war alles ganz anders.

Auf den Straßen der Stadt streiften keine Suchtrupps mehr umher; stattdessen sammelten sich die Menschen vor seinem Büro und forderten den Tod des Bruders. Jetzt blickte er nur noch in demütige, bescheidene Gesichter, und Männer und Frauen baten darum, ihm die Hand schütteln zu dürfen. Jetzt fingen die Menschen endlich an, ihre Freiheit anzunehmen, sich aus den Fängen des Bruders zu befreien und seine Lehren aus ihren Köpfen und aus ihren Herzen zu verbannen.

Und Lucas versuchte, sich für sie zu freuen und Befriedigung darüber zu empfinden, dass er endlich sein Ziel erreicht hatte. Aber stattdessen musste er gegen einen undurchdringlichen Nebelschleier von Nihilismus ankämpfen. Denn die Stadt war nicht wie Phönix aus der Asche entstanden, sondern am Computer. Sie war kein Leitstern des Überlebens, sondern das Werk eines Verrückten, ein Spiel, ein Projekt.

Und Evie befand sich in der Gewalt dieses Irren, meilenweit entfernt von Lucas.

»Keiner von uns hat Ihnen geglaubt«, sagte Amy. »Und jetzt erkennen wir, wie falsch es war, Ihnen zu misstrauen.«

Lucas nickte und versuchte, sich zu konzentrieren und alles andere zu verdrängen, zumindest für den Moment.

»Sie dürfen nicht vergessen«, sagte er und berührte mit der rechten Hand wie zufällig sein linkes Handgelenk, »dass das System uns zu Sklaven gemacht hat. Die Urteile, die es gefällt hat, waren willkürlich und wurden vom Bruder kontrolliert, um den Menschen Angst zu machen, um sie zu entzweien, um seine Freunde zu belohnen und seine Feinde zu bestrafen. Das System war genauso korrupt wie der Bruder. Er ist verantwortlich für das, was passiert ist. Er hat die Bewohner der Stadt manipuliert, damit sie ihm glauben und nicht mir. Niemand sollte sich selbst dafür die Schuld geben. Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück. Ich will, dass wir wieder anfangen zu leben.«

Doch er war sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, bei diesen Worten keine Miene zu verziehen. Er hatte keine Ahnung vom Leben. Nicht mehr, seit Thomas Evie mitgenommen hatte, seit er beim Höhlenausgang nach links gegangen und einen Tunnel hinuntergesaust war, unfähig, sich umzudrehen oder auf Evies Rufe zu antworten. Er hatte versucht, wieder hochzuklettern, hatte gerufen, geschrien, sich die Hände aufgeschürft, hatte versucht, zu ihr und zu seinen Freunden zu gelangen, aber es war sinnlos gewesen. Er hatte mitansehen müssen, wie sie weggebracht wurde und wie der Hubschrauber mit ihr, Linus, Raffy und Benjamin davonflog, in eine Welt, die angeblich nicht mehr existierte, in eine Welt, die Lucas immer noch nicht begreifen konnte, auch wenn er es noch so sehr versuchte.

Hatte Linus gewusst, dass er es als Einziger schaffen würde zu entkommen? Er hatte keine Ahnung, aber er hatte so seine Vermutungen. Vermutungen, die ihm nachts den Schlaf raubten, weil ihm alle möglichen Gedanken und Fragen durch den Kopf gingen. Hatte Linus ihm deshalb den USB-Stick mit Thomas’ Geständnis gegeben, in dem er ihnen alles offengelegt hatte: seine Beteiligung an dem Verschwinden der jungen Leute, an der Schreckenszeit, an dem Verrat des Bruders? Hatte Linus deshalb dafür gesorgt, dass Lucas direkt hinter ihm ging? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er innerlich ganz leer war und dass das so bleiben würde, bis er Evie wiedersehen würde.

»Was wäre Ihrer Meinung nach die passende Strafe für den Bruder?«, fragte Amy mit zusammengekniffenen Augen. »Die Leute fordern seinen Kopf. Immerhin hat er die brutale Ermordung der Verschwundenen mitgetragen.«

Lucas schloss für einen Moment die Augen. Dann öffnete er sie wieder, stand auf und ging zu dem großen breiten Fenster. Er hatte nach seiner Rückkehr über ein neues Büro, ein neues Gebäude, einen Neuanfang nachgedacht. Aber dann hatte er sich doch mit einem neuen Fenster begnügt. Einem großen Fenster, durch das er den Himmel sehen konnte.

»Ich denke, wir werden eine angemessene Strafe finden«, sagte er leise. »Ich habe vor, eine Jury aus Männern und Frauen dieser Stadt einzuberufen, um zu entscheiden, ob er in der Stadt inhaftiert oder ob er verbannt werden soll. Die Menschen sollen entscheiden. Schließlich waren sie es, die er betrogen hat.«

»Und was für Pläne haben Sie sonst noch für die Stadt auf Lager?«, fragte Amy weiter.

Lucas dachte einen Moment lang nach und drehte sich dann zu ihr um. Sie hatte keine Ahnung, dass das alles nur Schein war, genauso wenig wie auch die anderen Menschen in diesem Land eine Ahnung hatten, dass sie betrogen und benutzt wurden und dass ihr Leben zerstört wurde. Und das alles wegen eines Computersystems.

»Frieden«, sagte Lucas schließlich. Denn sie brauchten es nicht zu wissen. Jedenfalls noch nicht. Immerhin hatten sie schon genug gelitten. »Frieden und Wohlstand für die Bewohner der Stadt. Harte Arbeit. Stabile Verhältnisse. Humor. Spaß. Liebe. Die Menschen sollen sich an den kleinen und großen Dingen freuen, frei ihre Meinung sagen und miteinander und mit mir diskutieren können; sie sollen wieder Spaß haben am Leben. Die Mauer um uns herum soll niedriger werden. Ich möchte mit den anderen Gemeinden zusammenarbeiten. Und ich möchte, dass wir keine Angst mehr haben müssen.«

Amy schrieb wie wild mit, sah dann Lucas an und neigte den Kopf zur Seite. »Und Sie? Glauben Sie, dass auch Sie Frieden finden werden? Nach allem, was passiert ist?«

Lucas schaute sie an, aber dann wanderte sein Blick zu seinem Schreibtisch hinter ihr. Auf seinem Computerbildschirm leuchtete eine Nachricht für ihn auf, eine Nachricht, die nur von einem Menschen stammen konnte, eine Nachricht, die ihn an die Zeit erinnerte, als er mit Linus kommunizierte, ohne zu wissen, wer das war oder wo er lebte. Er wusste nur, dass sein Vater Linus vertraute und dass auch er ihm vertrauen musste. Jetzt benutzten sie wieder dasselbe Kommunikationsmittel, doch diesmal ohne Worte. Es war nur ein Signal, um Lucas Bescheid zu geben, dass sie am Leben waren und dass alles in Ordnung war. Nach fünf Sekunden verschwand es wieder und wurde durch seinen Bildschirmschoner ersetzt, ein Bild von Clara an ihrem sechzehnten Geburtstag vor zwei Wochen, mit den strahlenden Gesichtern ihrer Eltern, die sich über die Rückkehr ihrer geliebten Tochter freuten. Das Bild erinnerte ihn daran, dass sein Kampf sich gelohnt hatte, zumindest für Claras Familie. Die Menschen kamen zurück, und auch Evie würde zurückkommen. Er würde sie wiederfinden, irgendwann …

Lucas holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln.

»Das hoffe ich«, sagte er. »Denn die Hoffnung stirbt zuletzt.«

Ende des zweiten Bandes

Dank Mein Dank gilt wie immer meiner Lektorin Kate Howard und allen Mitarbeitern bei Hodder, die sich so große Mühe gegeben haben, diese Reihe lebendiger zu machen; vor allem Eleni Lawrence und Justine Taylor.

Dank auch an Dorie Simmonds, meine wunderbare Agentin. Und vielen Dank an Alan Greenspan, dessen Gedanken und Ideen Anlass für eine Neufassung dieses Buches waren, zum Besseren, wie ich hoffe …!

Und schließlich danke ich all denen, die sich die Zeit genommen haben, mit mir Kontakt aufzunehmen und mich anzuspornen. Ohne euch hätte ich es nicht geschafft!

Table of Contents

Vorwort

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