Als er auf den Korridor hinaustrat, sah er sofort, dass der Bruder in Begleitung zweier Wachmänner auf ihn zukam. Lucas bemerkte reuevoll, dass die Wachen eher aussahen wie Dienstboten als wie Gefängniswärter.
»Lucas. Harte Zeiten, was?«, sagte der Bruder mit einem Lächeln auf den Lippen. Lucas starrte ihn an.
»Ja«, erwiderte er mit versteinerter Miene, damit der Bruder ihm seine inneren Qualen und seine Selbstzweifel nicht anmerkte. »Und bitte, erspar dir diesen triumphierenden Gesichtsausdruck. Ich weiß ja, dass du dich im Grunde nur für dich selbst interessierst, aber du könntest ja wenigstens so tun, als wärst du besorgt wegen dem, was passiert ist, anstatt so ausgesprochen gut gelaunt aufzutreten.«
»Lucas, das ist eine furchtbare Anschuldigung«, meinte der Bruder, ohne dass das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. »Natürlich bin ich besorgt. Nicht wegen dir, sondern wegen den armen Menschen in dieser Stadt, die sich darauf verlassen, dass du sie beschützt. Aber sie wurden immer wieder enttäuscht. Du bist deinem Vater sehr ähnlich, Lucas. Ich verstehe nicht, warum ich das nicht schon früher erkannt habe.«
Lucas wandte den Blick ab vor Abscheu. Sein Vater war ein Opfer der Regierung des Bruders geworden. Er war zum K herabgestuft worden, als er die Lügen aufgedeckt hatte, auf denen der Bruder die Stadt aufgebaut hatte. K stand für Killable. Lucas erschauerte, wenn er an den Blick seines Vaters dachte, als der ihm sagte, was geschehen würde, dass er sterben würde, dass er Lucas’ Hilfe brauche, dass Lucas niemandem etwas sagen dürfe …
Und jetzt weidete sich der Bruder an Lucas’ Unglück. Lucas hatte noch nie solche Verachtung empfunden wie in diesem Moment. Hätte er Linus’ Rat befolgt und den Bruder vor den Toren der Stadt sterben lassen, wie der Bruder es mit Lucas’ Vater und mit so vielen anderen Opfern getan hatte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber Lucas hatte es nicht fertiggebracht. Er wollte eine gute und freie Stadt nicht auf einem so rachsüchtigen und barbarischen Akt aufbauen. Stattdessen hatte er gedacht, er könnte die Macht der neuen Regierung demonstrieren, indem er dem Bruder vergab. Und der Bruder war so dankbar gewesen – ja, geradezu mitleiderregend – und hatte versprochen, Lucas zu unterstützen, ihm zu helfen und Teil dieser neuen Stadt zu werden.
Doch trotz der Wachen, die den Bruder in Schach halten sollten, und trotz des Hausarrests, bei dem es ihm nur gestattet war, von seinem Haus zur Arbeit und wieder zurück zu fahren, setzte der Bruder alles daran, zu intrigieren, zu manipulieren und Unruhe zu stiften. Lucas hatte zwar keinerlei Beweise, aber er sah, was hier vorging, und er verdächtigte seine eigenen Leute, an diesen Machenschaften beteiligt zu sein. Die Menschen hatten Angst vor dem Bruder; sie glaubten immer noch an ihn. Aber Lucas wollte dafür sorgen, dass sich das änderte.
»Ich muss gehen«, sagte er wütend. »Ich muss die jungen Leute suchen.«
»Und du glaubst im Ernst, dass du sie findest?« Der Bruder schüttelte den Kopf. »Lucas, die Mauer ist verstärkt und auf Bruchstellen untersucht worden. Du selbst hast alle Schlüssel der Torwächter konfisziert. Niemand kann aus der Stadt hinaus und niemand kann herein. Du musst akzeptieren, dass sich das Böse innerhalb der Stadtmauern befindet. Du musst akzeptieren, dass du nicht alles kontrollieren kannst und dass du das System brauchst.«
Lucas schüttelte verwundert den Kopf. »Und das sagt ausgerechnet der Mann, der die Menschen in einem Ausmaß kontrollieren wollte, dass sie ohne seine Zustimmung nicht einmal Freundschaften schließen durften?«
Der Bruder zuckte die Achseln. »Ich kümmere mich eben um meine Schäfchen. Das ist doch kein Verbrechen, Lucas. Aber konzentrier dich ruhig auf die Mauer, wenn du dich dann besser fühlst. Ich bin sicher, Rab freut sich über Gesellschaft.«
Rab war der Wächter des Osttores. Dieser Abschnitt der Stadtmauer war eine besondere Schwachstelle wegen des Sumpflands ringsherum, sodass dort keine Wachen aufgestellt werden konnten. Aber eben wegen dieser Sümpfe war es auch unwahrscheinlich, dass von dort her jemand in die Stadt eindrang, worauf Rab jedes Mal hinwies, wenn Lucas ihn aufsuchte, befragte und die Mauer überprüfte. Schließlich hatte Lucas den Schlüssel konfisziert, weil er irgendwie dachte, er hätte alles besser unter Kontrolle, wenn nur er allein alle Schlüssel verwahrte. Jedenfalls hatte der Bruder recht. Die Mauer und die Tore wiesen keine Beschädigungen auf, niemand hatte versucht, gewaltsam in die Stadt einzudringen, und Rab schwor Stein und Bein, dass er keinen herein-oder hinausgelassen hatte. Der, der das tat, befand sich entweder bereits in der Stadt oder gelangte auf unbekannten Wegen hinein oder hinaus. Lucas wurde jedoch den Verdacht nicht los, dass der Bruder mehr wusste, als er zugab.
»Ich werde jeden Stein umdrehen und jeden Winkel der Stadt durchsuchen«, sagte Lucas mit leiser Stimme. »Ich werde herausfinden, wer dahintersteckt.«
»Mach, was du willst«, meinte der Bruder abweisend. »Das Dumme ist nur, dass wir kein System mehr haben, das unsere Bürger beschützt. Aber das weißt du ja, nicht wahr, Lucas?«
Lucas musterte ihn mit eiskaltem Blick. »Das System hat sie nie beschützt. Es hat sie mit eiserner Faust regiert und sie auf Schritt und Tritt überwacht«, sagte er ruhig.
Der Bruder zuckte die Achseln. »Und trotzdem haben sich die Menschen sicherer gefühlt. Und sie waren auch sicherer. Du hast das System abgeschaltet. Deshalb bist du für das Verschwinden der jungen Leute verantwortlich. Such sie, Lucas. Erklär den Familien, warum ihre Lieben verschwunden sind. Oder tu etwas, damit es endlich aufhört. Du könntest das System wiederherstellen und dafür sorgen, dass jeder Bürger wieder überwacht wird. Du könntest endlich etwas Sinnvolles tun und den Menschen beweisen, dass du dich um sie kümmerst.«
»Immer das System. Das ist deine Antwort auf alles.«
»Es war tatsächlich die Antwort auf alles«, entgegnete der Bruder mit eisigem Blick. »Und du und deine Terroristen-Freunde, ihr habt es zerstört.«
Lucas holte tief Luft. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er seine Gefühle versteckt, doch jetzt kamen sie hoch, obwohl ihm klar war, dass er sie kontrollieren musste. Sonst würden sie ihn übermannen und er wäre so wütend und verzweifelt, dass er nicht mehr den Willen hätte, weiterzumachen.
»Du bist hier der Terrorist, Bruder«, sagte er schließlich. »Du bist derjenige, der die Macht mit Gewalt, durch Unterjochung, an sich gerissen hat. Das System hat das Leben von Menschen zerstört, es hat meinen Vater zum Tod verurteilt, nur weil er die Wahrheit herausgefunden hat.«
Der Bruder runzelte die Stirn. Er war enttäuscht. »Du verstehst es immer noch nicht, Lucas, oder?«, fragte er herablassend.
»Was verstehe ich nicht?«
Der Bruder kam näher und stellte sich ganz dicht vor Lucas hin. »Ich habe dich immer für einen cleveren Burschen gehalten«, flüsterte er mit einem Funkeln in den Augen. »Ich hab gedacht, du hättest es verstanden. Aber in Wahrheit bist du genau so naiv wie dein Freund Linus. Du scheinst nicht zu begreifen, dass die Menschen geführt werden wollen. Sie wollen, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen. Und genau das habe ich getan. Ich habe ihnen die Freiheit geschenkt, nicht selbst denken zu müssen. Und du hast sie ihnen genommen. Darum hassen sie dich, Lucas.«
»Die Menschen wollen richtig frei sein«, sagte Lucas und trat einen Schritt zurück.
»Glaub doch, was du willst«, meinte der Bruder achselzuckend. »Aber an deiner Stelle würde ich hoffen, dass keine jungen Leute mehr verschwinden. Denn wenn das nicht aufhört, wird der wütende Mob, der deinen Kopf fordert, noch größer und selbstbewusster und entschlossener. Und ich habe ganz bestimmt nicht die Absicht, ihn aufzuhalten.«