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Raffys Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du wirst wohl auch schon zu einer Maschine«, meinte er bitter. »Mein Vater war ein guter Mensch. Er war nicht böse. Er war nicht böse.« Er wandte sich ab und vergrub seinen Kopf auf den Knien. Evie streckte zaghaft die Hand nach ihm aus.

»Er wollte nicht böse sein«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, dass er das nicht wollte. Aber das System …«

»Das System hat immer recht. Schon klar.« Seine Stimme hatte nun einen gefährlichen Unterton. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Konnte das System ihn hören?

»Das System hat recht.« Sie blickte sich besorgt um. »Es kennt jeden von uns und sieht tief in unser Herz und …«

»Und mein Vater wird vom A direkt zum K? Da war das System wohl für eine Weile nicht ganz bei der Sache?« Raffy stand auf. »Verstehst du denn nicht, Evie? Ich dachte, du würdest es verstehen. Das ist alles Mist. Das muss so sein. Ich bin nicht böse. Und du bist nicht böse. Die Gefühle, die ich für dich habe, sind nicht böse. Und die Gefühle, die du für mich hast. Oder hattest, muss ich wohl eher sagen.«

Wieder sah er sie eindringlich an, und Evie merkte, dass ihr warm wurde.

»Habe«, flüsterte sie. »Die ich habe.«

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er setzte sich wieder auf das Bett, ergriff ihre Hände und zog sie an sich.

»Neulich«, meinte er so leise, dass sie ihn kaum hören konnte, »als ich die Panne bemerkt habe … das war keine Panne, das war ein Kommunikationsprogramm. Es gab Botschaften an Menschen außerhalb der Stadt. An Menschen, die auch ein System haben müssen. Dabei behauptet der Bruder immer, da draußen gäbe es nur lauter Böse und Wilde. Aber ich habe die Botschaften gesehen. Und das Programm. Verstehst du denn nicht? Wenn sie bei dieser Sache lügen, dann lügen sie auch bei anderen Dingen.«

Evies Augen waren fast so groß wie Untertassen, und ihr Herz begann, angstvoll zu klopfen. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, flüsterte sie. »Nein, Raffy. Das ist unmöglich.«

Er verdrehte die Augen. »Ja, das hat Lucas auch gesagt. Ich hätte mir das ausgedacht, ich hätte Halluzinationen. Aber ich weiß genau, was ich gesehen habe.«

»Aber … aber …«, stammelte Evie. Ihre Gedanken rasten, und ihre Verwirrung wuchs so sehr, dass sie das Gefühl hatte, das Gleichgewicht zu verlieren.

»Nichts aber«, sagte Raffy. Er drückte ihre Hände und plötzlich leuchteten seine Augen. »Wenn es einen anderen Ort gibt, dann gehen wir dorthin. Zusammen.«

»Dorthin? Du meinst, die Stadt verlassen?« Evie zuckte zurück.

»Ich meine, irgendwo einen besseren Ort finden. Ohne Vorschriften. Wo wir einfach nur leben können.«

»Du meinst, so wie die Bösen leben?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Raffy. Nein. Wir gehen nirgendwohin. Du gehst nach Hause und kommst nie wieder her und ich werde Lucas heiraten.« Sie senkte den Blick, ihre Tränen flossen nun ungehindert.

»Nein!«, rief Raffy aufgebracht. »Evie, hör mir zu. Wir haben doch immer davon geredet … davon, dass wir einen Ort finden irgendwo weit weg, wo wir glücklich leben können. Wir haben immer davon geredet, dass wir fliehen wollen. Also jetzt können wir es. Jetzt müssen wir es.«

Evie zog ihre Hände weg und sagte wütend: »Das war doch bloß kindisches Gerede. Jetzt sind wir erwachsen. Du kannst nicht mehr länger in deiner Fantasiewelt leben. Du lebst hier in der Stadt. Und du hast Glück, dass du hier lebst. Wir haben beide Glück. Du musst aufhören, Raffy. Du musst …« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, stand vom Bett auf und stieß das Fenster auf. »Du musst gehen, Raffy«, sagte sie. »Sofort … Bitte.«

»Du willst wirklich, dass ich gehe?«

Evie nickte. Sie brachte es kaum über sich, ihn anzusehen, die Verwirrung und den Schmerz in seinen Augen, die ihre Entschlossenheit sofort ins Wanken bringen würden.

»Also gut. Ich gehe«, murmelte er böse. »Aber ich sage dir, es gibt diesen Ort. Das ist kein Hirngespinst, das ist Wirklichkeit. So wirklich wie alles hier.« Er packte sie, zog sie an sich und küsste sie. Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, doch sie konnte nicht. Sie wollte nicht. Stattdessen hielt sie sich an ihm fest, an seinen Schultern, an seinen Haaren, presste ihn an sich und sog den Duft seiner Haut ein, damit sie ihn nie vergessen würde.

»Leb wohl, Evie«, sagte er schließlich mit heiserer Stimme. »Pass auf dich auf.«

Dann ließ er sie los, und noch nie hatte sie sich so allein gefühlt, so kalt und so hilflos. Doch sie stählte sich, holte tief Atem. Sie tat das Richtige. Endlich einmal tat sie das Richtige. Raffy ging zum Fenster, und Evie zog den Vorhang ganz zurück, damit er es öffnen konnte. Und dann hörten sie beide etwas. Ein Rascheln unten im Garten. Sie rührten sich nicht, starrten sich an. »Was war das?«, flüsterte Raffy.

»Geh hinter den Vorhang«, formte Evie mit den Lippen. Sie reckte sich ein wenig und spähte nach unten, um herauszufinden, woher das Geräusch kam. Ein Fuchs, sagte sie sich. Oder ein anderes Tier. Ein …

Aber es war kein Fuchs. Sie sah ihn sofort. Er sah sie direkt an und nun fiel sie wirklich in einen Abgrund. Mitten im Garten stand Lucas und sein blondes Haar leuchtete im Mondlicht. Und sie wusste sofort, dass er alles gesehen hatte; sie hatten sich direkt am Fenster bei halb geöffnetem Vorhang umarmt. Er musste Raffy gefolgt sein. Und jetzt wusste er es. Und jetzt … Sie fing an zu schwitzen. Sie musste Raffy warnen, aber wenn sie sich zu ihm umdrehte und ihm ein Zeichen gab, dann gab es für Lucas keinen Zweifel mehr. Sie musste zumindest so tun, als ob. Nur für den Fall, dass er doch nichts gesehen hatte. Nur für den Fall.

Evie lehnte sich aus dem Fenster. »Lucas!«, flüsterte sie. »Was machst du …?«

»Schick Raffy zu mir herunter«, flüsterte er zurück, ohne irgendeine Regung in der Stimme.

»Raffy?«, fragte sie.

»Evie, mach es nicht noch schlimmer, als es sowieso schon ist. Schick Raffy sofort herunter. Ich muss ihn nach Hause bringen. Zwing mich nicht dazu, dass ich deine Eltern aufwecke.«

Raffy hörte die Stimme und wurde kreidebleich. Evie sah ihn verzweifelt an. Es gab nichts zu sagen.

Raffy trat ans Fenster. »Ich werde ihm sagen, dass das alles meine Schuld ist«, sagte er. »Dass ich hier eingedrungen bin. Ich sage ihm, du hast versucht, mich dazu zu bringen, dass ich gehe …«

Evie schüttelte den Kopf. »Er weiß alles«, sagte sie. »Er hat uns gesehen.«

Raffy nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass sie aufschrie vor Schmerz. »Es tut mir leid, Evie«, sagte er stockend. »Ich liebe dich. Es tut mir so leid.«

»Es braucht dir nicht leidzutun. Ich liebe dich auch«, brachte sie mit belegter Stimme heraus. Raffy kletterte aus dem Fenster und an der Hauswand hinunter in den Garten, wo Lucas auf ihn wartete. Sie sprachen kein Wort. Lucas legte seinem Bruder gebieterisch die Hand auf die Schulter und schob ihn Richtung Gartentor.

Er sah nicht zurück zu Evie, die sich ins Bett legte und die Decke über sich zog und wartete, bis der Morgen kam und alles anders wurde. Doch trotz ihrer Angst spürte sie fast so etwas wie Erleichterung, dass die Wahrheit heraus war, dass alle sie nun als die sehen würden, die sie wirklich war, und dass die Verstellung ein Ende hatte. Und mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Als sie am Morgen nach unten ging, war sie seltsam gefasst. Lucas musste es jemandem erzählt haben. Bestimmt wussten ihre Eltern Bescheid.

Ihre Mutter war gerade dabei, sich fertig zu machen, und schien kaum Notiz von Evie zu nehmen, die versuchte, ein bisschen etwas zum Frühstück zu essen.

Besorgt ging sie wieder hinauf, wusch sich und zog sich an. Dann verließ sie das Haus und wartete darauf, dass jemand auf sie zeigte, sie anschrie oder sie wegbrachte. Doch nichts geschah. Es war fast so, als wäre das, was letzte Nacht vorgefallen war, nur ein weiterer Traum gewesen, so als wäre es gar nicht passiert. Als die Aufseherin bei ihrer Ankunft kaum aufblickte und auch Christine ihr nur kurz zulächelte wie sonst auch, dachte Evie schließlich, dass es vielleicht doch ein Traum war, dass vielleicht doch gar nichts passiert war.