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»Du findest also, dass Gewalt ihre Berechtigung hat?«, fragte Evie vorsichtig.

Lucas wandte sich zu ihr und lächelte, ohne dass das Lächeln seine Augen erreichte – aber schließlich erreichte bei ihm kein einziger Gesichtsausdruck seine Augen. Es war, als könnten sie nicht anders sein als kalt und stahlblau.

»Ich glaube, wir müssen verständnisvoll und nachsichtig sein gegenüber unseren Mitbürgern, die hart arbeiten und für ihre Familien sorgen und alles tun, was sie können, damit die sicher sind. Die Stadt ist ein Ort der Güte. Wenn das Böse sein Haupt erhebt, dann wird es schwierig.«

»Aber …«, begann Evie, doch dann hielt sie inne, weil ihr Vater ihr einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. Es stand ihr nicht zu, irgendwelche Einwände zu bringen, ja sich überhaupt an dieser Unterhaltung zu beteiligen. Sie durfte Lucas nicht fragen, warum er eine Sache sagte und etwas anderes tat. Und sie konnte ihn nicht zur Rede stellen und fragen, was Mr Bridges denn eigentlich so Schreckliches getan hatte.

Lucas räusperte sich. »Könnte ich … einmal das Badezimmer benutzen?« Evies Mutter nickte sofort. »Natürlich … Die Treppe hinauf, gleich links. Aber das wissen Sie ja.« Sie warf ihm noch ein albernes Lächeln zu, das sofort verschwand, als er den Raum verlassen hatte und sie auf ihre Tochter losging.

»Evie«, blaffte sie wütend. »Was ist heute los mit dir? Bist du nicht fähig zu einer höflichen Unterhaltung?«

Evie schüttelte den Kopf. »Nein. Es tut mir leid. Ich habe mich nur gewundert, sonst nichts …«

»Du sollst dich nicht wundern«, sagte ihre Mutter leise und mit einem drohenden Unterton. »Stell keine schwierigen Fragen. Du hast die Aussicht auf eine ausgezeichnete Partie, junge Dame – die du gar nicht verdienst, könnte manch einer sagen. Lucas ist ein guter Mann. Aber wenn du ihn heiraten willst, musst du dich zusammenreißen.«

»Sei nicht so streng mit ihr, Delphine«, warf ihr Vater begütigend dazwischen. »Evie hat schon immer einen wachen Verstand gehabt. Vielleicht ist es ja genau das, was Lucas an ihr mag.«

Delphine blickte höhnisch drein und holte schon wieder Luft, um zu widersprechen. Doch dann überlegte sie es sich anders. »Schon möglich«, meinte sie stattdessen mit gespitzten Lippen. »Schon möglich.«

»Evie.« Ihr Vater wandte sich mit freundlichem Blick zu ihr hin. »Du könntest doch an der Treppe warten, bis er wieder herunterkommt. Vielleicht zeigst du ihm dann das Wohnzimmer. Ihr könntet ja Karten spielen, wenn du willst.«

Wieder klappte der Mund ihrer Mutter auf, und wieder huschte ein Anflug von Unwillen über ihr Gesicht, aber im letzten Moment gewann ihre Selbstbeherrschung die Oberhand, sie rang sich ein Lächeln ab und nickte knapp.

Unsicher schob Evie sich von ihrem Stuhl und schlüpfte zur Tür hinaus, drückte sich fast eine Minute lang am Fuß der Treppe herum und überlegte, was sie sagen sollte, wenn Lucas wieder auftauchte. Dann hörte sie ein Geräusch aus dem Arbeitszimmer des Vaters und überrascht tappte sie zu der geschlossenen Tür und schob sie einen Spalt auf. Im Zimmer stand Lucas.

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Lucas, was machst du da drin?«

Er blickte auf, offenbar erschrocken über ihr Erscheinen.

»Evie«, stammelte er. »Entschuldige … Ich habe … ich habe nur die Sammlung deines Vaters bewundert.«

Er stand direkt neben dem Schreibtisch vor einem kleinen Schränkchen mit verschiedenen Medaillen und Pokalen. Es gab keine Wettbewerbe in der Stadt, kein Gewinnen oder Verlieren, denn diese beiden Dinge hatten den Beigeschmack der Unterwerfung, und beides führte zu Emotionen, die gefährlich sein konnten – sei es die Selbstzufriedenheit beim Siegen oder die Selbstzerstörung beim Verlieren. Stattdessen erhielten diejenigen Bürger Pokale und Medaillen, die einen bemerkenswerten und überragenden Beitrag für die Stadt geleistet hatten. Und Evies Vater Ralph hatte schon oft einen Beitrag geleistet, wie er Evie erzählt hatte, als sie noch klein war. Angefangen damit, dass er vor mehr als vier Jahrzehnten Steine für den Bau der Stadtmauer herangeschafft hatte. Zwei Jahre lang war an dem Mauerring gebaut worden, und noch viel länger an allen übrigen Häusern, Straßen und Bauernhöfen, die heute das Bild der Stadt prägten. Damals war er ein kleiner Junge gewesen, dem ein dankbares Lächeln des Großen Anführers die Kraft gab für zahllose Zwölfstundentage, wie sie damals eigentlich jeder leistete. Schon damals hatte er gewusst, dass das, was er tat, wichtig war. Hinter ihm lag nur Leid, doch vor ihm lag eine Zukunft voller Hoffnung. Als die Mauer und die übrigen Einrichtungen – baulicher wie logistischer Art – schließlich fertiggestellt waren, hatte man ihm zum Lohn für seinen Einsatz eine Stelle in der Verwaltung angeboten – in einem Büro mit Schreibtisch und eigenem Sekretär. Doch er lehnte ab und ging lieber zu den Holzarbeitern, um weiterhin mit seinen Händen Dinge zu erschaffen. Sehr zur Enttäuschung und Verärgerung von Evies Mutter, die über diesen Entschluss noch heute die Augen verdrehte und ihrem Ehemann mit Vorwürfen in den Ohren lag, er kümmere sich zu wenig um ihre Zukunft und um ihre Stellung in der Gesellschaft.

Evie schlüpfte ins Arbeitszimmer und schloss die Tür. »Du wolltest seine Medaillen anschauen? Aber die hast du doch bestimmt schon gesehen.«

Sie wusste sehr wohl, dass Lucas schon einmal im Arbeitszimmer des Vaters gewesen war. Hier hatten sie sich unterhalten, als die Verbindung beschlossen worden war; als Evies Vater seine Einwilligung gegeben hatte.

»Das habe ich«, Lucas lächelte lässig, »aber in Gegenwart deines Vaters schien es mir nicht angemessen, sie mir genauer anzusehen. Dein Vater ist ein bescheidener Mann.« Er sprach ruhig, aber Evie spürte, dass er nicht wirklich entspannt war. Ganz und gar nicht. Und das ermutigte sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass sie sagen konnte, was sie dachte. Lucas war irgendwo, wo er nicht sein sollte, und das wusste er, und sie war entschlossen, diesen Vorteil zu nutzen.

»Was ist mit Raffy?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihm direkt in die Augen.

»Er ist krank«, antwortete Lucas gleichmütig. »Eine ansteckende Krankheit.«

»Die muss aber sehr plötzlich ausgebrochen sein«, erwiderte Evie und wunderte sich, wie furchtlos sie klang, wie unangemessen ihr Ton war und ihre Fragen. Doch sie erkannte auch, dass sie mit Lucas längst darüber hinaus war, was angemessen war und was nicht. Er hatte sie durchschaut und sie konnte endlich sie selbst sein.

»So ist es«, meinte er und erwiderte ihren Blick, als wollte er sie herausfordern, ihn auszufragen; ihm vorzuwerfen, dass er log und dass er alles tat, um Raffy von ihr fernzuhalten.

Evie legte sich gerade den richtigen Satz zurecht, um genau das zu tun, als sie beide durch das Geräusch von Schritten aufgeschreckt wurden. Zu Evies Verwunderung glomm auch in Lucas’ Blick kurz ein Funke von Furcht auf. Beide drehten sich zur Tür und Evies Vater erschien. Er sah bestürzt aus, dass sie hier in seinem Arbeitszimmer waren, und ihm fehlten im ersten Moment die Worte. Das Arbeitszimmer war sein Reich, sein Reich ganz allein. Evie und ihre Mutter kamen nur herein, wenn er zu Hause war, und auch dann nur mit seiner Erlaubnis.

»Lucas wollte mich etwas fragen. Etwas sehr Persönliches. Etwas Wichtiges«, sagte Evie schnell und schämte sich sofort dafür, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen gekommen war. »Ich wollte nicht, dass wir im Wohnzimmer gestört werden … von Mutter …«

Ihre Blicke trafen sich, und als er ihre bedeutungsvolle Miene sah, blitzte Verständnis in seinen Augen auf. »Natürlich«, unterbrach ihr Vater sie lächelnd und sah von ihr zu Lucas und wieder zurück. Er hatte die Schlussfolgerung gezogen, die Evie erhofft hatte. »Entschuldigt bitte. Ich bin in der Küche, wenn ihr mich braucht.«

Er lächelte ihr noch kurz zu, dann ging er. Lucas sah Evie fragend an, schloss eine Sekunde lang die Augen und öffnete sie wieder. »Ich danke dir, Evie. Es war richtig, durchblicken zu lassen, dass wir über persönliche Dinge gesprochen haben. Sonst hätte dein Vater vielleicht falsche Schlüsse gezogen.«