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»Dabei lese ich doch ständig die Betrachtungen«, erwiderte Evie gequält. Sie biss sich auf die Unterlippe und fuhr mit der Hand unwillkürlich den Umriss der kleinen Narbe an ihrer rechten Schläfe nach, als müsste sie sich vergewissern.

Ihre Mutter nickte und verzog das Gesicht. Mit einem langen Seufzer meinte sie: »Die Betrachtungen zu lesen, reicht nicht. Du hast diese Träume, weil du sie zulässt.« Ihre Augen wurden schmal. »Weil du sie hereinlässt. Daran sieht man, wie schwach du bist. Einbildungskraft birgt die Veranlagung zum Lügen, Evie, eine Neigung, die Welt nicht so sehen zu wollen, wie sie ist. Du solltest dich wirklich vorsehen. Aber jetzt iss erst einmal deinen Haferbrei. Kein Grund, wertvolle Nahrung zu verschwenden.«

Evie nahm einen Löffel voll, aber der Brei kam ihr vor wie Pappe, ein Fremdkörper in ihrem Mund. Ihre Mutter hatte recht, obwohl sie eigentlich so gut wie nichts wusste. Ja, sie war schwach. Sie war abartig. Sie kaute auf dem Haferbrei herum und versuchte, ihn hinunterzuschlucken, aber es ging nicht. Es war, als würde ihr Magen ihn zurückweisen, als wüsste er, dass sie es nicht verdiente.

Auch ihrem Magen gelang es nicht, die Regeln der Stadt ordentlich zu befolgen, dachte sie bedrückt. Regeln für ein gutes Leben. Regeln, denen sich alle vorbehaltlos unterwarfen. Verschwende keine Nahrung. Lass keine Gefühle in deinem Herzen zu, denn sie sind das Tor zum Bösen. Streng dich an, halte dich an die Regeln, gehorche deinen Eltern, stell keine Fragen, hör auf den Bruder und beherzige seine Lehren, akzeptiere deinen Rang, aber strebe danach, ihn zu verbessern, hüte dich vor dem Bösen, denn es ist schädlich und hinterhältig, es ruht nie, und wenn es erst von dir Besitz ergreift, lässt es dich nie wieder los … Für die anderen war das alles so einfach, so klar, aber Evie empfand die Regeln wie eine Zwangsjacke, die ihren Geist und ihren Körper in eine unnatürliche Haltung zwang. Und sie konnte sich das nur damit erklären, dass das Böse bereits von ihr Besitz ergriffen hatte, und dass das Böse in ihr die Regeln ablehnte, obwohl sie doch zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz aller aufgestellt worden waren.

Verzagt legte sie den Löffel hin und schob die Schale von sich. Ihre Mutter warf ihr einen langen, eindringlichen Blick zu und meinte schließlich mit einem Achselzucken: »Du gehst jetzt besser los, damit du nicht zu spät zur Arbeit kommst.«

Evie schlich aus der Küche, putzte sich die Zähne und zog einen dünnen Mantel über. Wie immer ging sie zu Fuß zur Arbeit. Sie würde noch härter arbeiten, nahm sie sich vor und schritt energisch aus. Zerstörerische Gedanken würde sie nicht mehr zulassen. Sie würde ein besserer Mensch werden. Sie würde die Regeln der Stadt befolgen, auch wenn sie sich davon gegängelt fühlte. Sie würde sich danach richten, gerade weil sie einengend waren, weil sie das Böse in sich bekämpfen, ein für alle Mal ausmerzen musste. Weil die Stadt das Einzige war, was sie vor der Selbstzerstörung bewahrte, vor dem Bösen, das diese zerbrechliche Gemeinschaft und alle ihre Bewohner zu vernichten trachtete.

Evie und alle anderen lebten in dieser Stadt – jedenfalls die Guten. Die hohen Mauern schützten sie vor den Bösen, die draußen auf Raubzug gingen, die sie alle umbringen und die Welt in Angst und Schrecken versetzen wollten, wie sie es auch vorher schon getan hatten.

Es waren die Bösen gewesen oder deren Vorfahren, die vor Jahren die Welt fast zerstört hatten. Die die Schreckenszeit entfesselt hatten. Bevor die Stadt entstand, war die Welt voll von Bösen gewesen, von Menschen ohne jede Liebe und Güte. Nicht alle Menschen waren dazu bestimmt, böse zu sein; nur einige waren gefühllos durch ihre verdrehten Gehirne, eigennützig oder gewalttätig. Andere wiederum ließen sich leicht beeinflussen, und die Geisteskranken waren sehr überzeugend, krempelten deren Verstand um und brachten sie dazu, schreckliche Dinge zu tun, während sie dachten, sie wären gut.

Die Schreckenszeit hatte als kleiner Kampf begonnen, sich dann aber zu einem gewaltigen Krieg ausgeweitet, der jahrelang getobt hatte. Millionen Menschen waren auf schreckliche Weise umgekommen, nur weil man sich nicht hatte einigen können. Ein Gutes jedoch war aus dem Schrecken entstanden: die Stadt. Wie Phönix aus der Asche, bemerkte der Große Anführer in seinen Betrachtungen. Außerhalb der Stadtmauer herrschte aber noch immer das Böse, und die Menschen lebten in einem ständigen Kampf um alles – Nahrung und Unterschlupf. Dort gab es keine Ordnung, keine Zivilisation. Dort gab es keinen Frieden.

Aber Evie brauchte sich keine Sorgen um die Welt dort draußen zu machen, weil sie zu den Glücklichen gehörte, die innerhalb der Stadtmauer lebte.

Die Stadt war der einzige gute, sichere Ort auf der Welt und deshalb stand er ständig unter Belagerung. Deshalb durften die Bürger nie vergessen, wie privilegiert sie waren, und mussten alles tun für die Sicherheit der Stadt. Sie mussten tugendhaft leben, um den Schutz der Stadt zu verdienen.

Denn schon ein einziger fauliger Apfel konnte den ganzen Korb verderben.

Der Weg zur Arbeit führte an einer langen breiten Straße entlang. Vor der Schreckenszeit war dies der Finanzdistrikt der Stadt London gewesen. Hier war das Böse gediehen und alles hatte sich einzig und allein um das Anhäufen und Vermehren von Geld gedreht.

In der Stadt gab es kein Geld mehr; die Arbeiter bekamen Wertmarken für alles, was sie brauchten.

Das Geld und seine Diener waren verschwunden, aber die Straße war geblieben, samt einigen Gebäuden. Auch das Krankenhaus gehörte dazu, aber nun diente es dem Großen Anführer als Hauptquartier. Dorthin war er in den letzten Stunden der Schreckenszeit geflohen, und dort hatte er andere davon überzeugt, sich ihm anzuschließen, an ihn zu glauben und nach einer anderen Lebensform zu suchen. Nach einem guten, friedlichen Leben.

Der Regierungsblock Nummer 3, in dem Evie beschäftigt war, gliederte sich in fünf Abteilungen: Technik, Archiv, Rangänderung, Aufklärung und Forschung. Evie gehörte zur Abteilung 3 für Rangänderung und arbeitete in einem stickigen Großraumbüro in einem neu erbauten grauen Gebäude im Stadtzentrum, nur ein paar Minuten entfernt vom Stadtplatz mit dem prächtigen Standbild des Großen Anführers. Fast alle Regierungsgebäude waren neu erbaut, an Orten, die nach der Schreckenszeit vom Schutt der alten Bebauung geräumt worden waren. Für den Großen Anführer war es ein neuer Anfang gewesen – eine Möglichkeit, wie die Stadt sich von allen vorherigen Städten, von deren Verderbtheit und deren Sonderlingen unterscheiden konnte. Aber nicht alles war neu. Die Mittel waren knapp, und Häuser, die noch sicher standen, hatte man ins Stadtbild eingegliedert und die Spuren der vorigen Bewohner getilgt. Nun waren sie ein anerkannter Teil dieser neuen, sicheren Heimat – genau wie die Bürger, die eine zweite Chance bekommen hatten, ein neues Leben und eine bessere Zukunft.

Schon während sie sich dem Gebäude näherte, schlüpfte Evie aus dem Mantel, damit sie ihn schnell und ohne sich aufzuhalten in ihren Spind hängen und in ihre Abteilung hinaufgehen konnte. Herumtrödeln wurde nicht geduldet in der Stadt; nur ein tätiger und konzentrierter Geist war ein guter Geist, hieß es in den Betrachtungen. Herumstehen und Plaudern dagegen waren der ideale Nährboden für das Böse, für die Versuchung.

Doch als sie die Stufen zum Eingang erreichte, hielt sie inne und errötete. Da stand Lucas.

»Evie.« Er lächelte förmlich. Sein blondes Haar schimmerte fast weiß in der Morgensonne, und seine klaren blauen Augen strahlten so durchdringend und doch so gefühllos, dass Evie manchmal gute Lust hatte, ihn zu schlagen, nur um zu sehen, ob diese Augen überhaupt weinen konnten. Daran konnte man natürlich sehen, was für ein schrecklicher Mensch sie war. Nur ein schrecklicher Mensch würde solche Gedanken haben gegenüber dem Mann, den er heiraten würde. »Guten Morgen. Wie geht es dir heute?«