Evie machte sich daran, die Rangänderung vorzunehmen. Sie gab die nötigen Codes ein, prüfte und vergewisserte sich noch einmal, dass alles seine Richtigkeit hatte. Mitgefühl für den Betroffenen war bedeutungslos und unsinnig, das wusste sie. Wie in Betrachtung Nummer 26 erklärt wurde, war eine Rangänderung weder ein glücklicher noch ein trauriger Vorfall, sondern eine selbst herbeigeführte Tatsache. Aber Evie konnte einfach nicht anders; sie konnte den Gesichtsausdruck ihrer Nachbarin Mrs Chiltern nicht vergessen, als diese von C auf D herabgestuft wurde. Die Scham darüber hatte sie auch dann nicht abgelegt, als sie schon längst wieder in Rang C aufgestiegen war. Sie hatte sich nie mehr mit Evie über den Gartenzaun hinweg unterhalten oder war zum Tee vorbeigekommen. Sie war nicht willkommen – das hatten Evies Eltern ganz deutlich gezeigt – und selbst im anderen Fall wäre sie nicht gekommen. D war gleichbedeutend mit abartig. D war gefährlich. Was Mrs Chiltern sich hatte zuschulden kommen lassen, hatte Evie nie erfahren, aber das spielte auch keine Rolle. Das System wusste Bescheid und das genügte.
Das System wusste alles.
Evie war inzwischen fast fertig mit Mr Heights Rangänderung. Herabstufungen waren stets leichter zu bewerkstelligen als Aufwertungen; weniger Prüfungen und nochmalige Überprüfungen, weniger Codes, die immer wieder eingegeben werden mussten, damit die Änderungen alle korrekt waren. Jeden Tag bewertete das System alle Einwohner der Stadt. Jede Woche waren Hunderte von Rangänderungen nötig, um Ausgleich zu schaffen, um die Gesellschaft zu regulieren, das Gute zu belohnen und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ordnung bedeutete Frieden, durch das Gute wurde das Böse ferngehalten, denn die Stadt gründete auf Gemeinschaft, auf Gesellschaft, auf der Gruppe und nicht auf dem Einzelnen.
Den Rang bekam aber nicht die mehrere Tausend Einwohner zählende Gemeinschaft, sondern der Einzelne, dachte Evie oft bei sich. Jeder Einzelne musste dem Ehemann oder der Ehefrau die schlechte Nachricht beibringen, der Einzelne wurde auf der Straße gemieden, wenn er im Rang gefallen war.
Doch solche Gedanken waren nicht erlaubt. Etwas in der Stadt infrage zu stellen, hieß, dass man es besser wüsste als der Große Anführer. Und deutlicher konnte sich Selbstsucht wirklich nicht ausdrücken.
Sorgfältig tippte Evie die Zahlenreihen ein und wickelte die Rangänderung ab. Als sie fertig war, zeichnete sie das Deckblatt der Akte mit dem Systemcode ab. Sie dachte zu viel nach, das war ihr Problem. Selbst im Schlaf arbeitete ihr Gehirn weiter, anstatt sich auszuruhen, zu vertrauen und die Dinge hinzunehmen. Wenn sie zu viel nachdachte, dann war sie ebenso schlecht wie diejenigen, die am Großen Anführer gezweifelt hatten, die die Schreckenszeit heraufbeschworen hatten, die draußen vor der Stadt lebten und alle Bewohner vernichten wollten.
»Evangeline, starren Sie schon wieder Löcher in die Luft?« Erschrocken blickte Evie auf. Die Aufseherin Mrs Johnson sah sie durchdringend an. Evie errötete.
»Nein«, meinte sie fahrig. »Ich meine … Entschuldigung.«
Mrs Johnson runzelte die Stirn und Evie nahm sich die zweite Akte vor. Wieder von C nach D. Sie zwang ihre Augen geradeaus auf den Bildschirm, weg von der unmittelbaren Zukunft der betroffenen Person, und fing an zu tippen.
2
Wie üblich kam Evie später nach Hause. Eine Stunde diesmal. Manchmal war es noch mehr, aber das war egal. Ihre Eltern warteten auf sie. Jeder in der Stadt arbeitete hart, jeder war produktiv. Ein tätiges Hirn ist ein glückliches Hirn, sagte der Große Anführer. Produktive Menschen bedeuteten eine glückliche Gesellschaft. Und harte Arbeit hieß weniger Zeit zum Nachdenken und weniger Gelegenheit, dass das Böse gedeihen konnte.
Wie immer öffnete Evie die Haustür und ging gleich in die Küche, aber heute Abend waren sie offenbar nicht allein. Dort, neben ihrem Vater, saß, mit einem großen Weinglas in der Hand, der Bruder, der vom Großen Anführer Auserwählte, ihrer aller Mentor und Ratgeber. Der Große Anführer selbst war alt geworden und zeigte sich nur noch selten. Er selbst hatte den Bruder dazu ausersehen, sein Volk zu führen und dafür zu sorgen, dass das Böse innerhalb der Stadtmauer nicht geduldet wurde.
»Evie!« Er lächelte ihr zu, traf mit seinen wässrigen Augen ihren Blick aber nicht genau. Die Wärme in der Küche und der Alkohol hatten seine schlaffen Wangen rosig gefärbt. »Und wie geht es uns heute?«
Evie erwiderte das Lächeln, ohne dass ihre Augen daran beteiligt waren. Ein Besuch des Bruders war nicht vorgesehen gewesen. Es musste einen Grund dafür geben. Er musste etwas wissen. Furcht kroch in ihr hoch, ein nur allzu vertrautes Gefühl. »Danke, gut, Bruder«, antwortete sie nervös.
»Dann setz dich nur. Iss. Deine Mutter hat einen Kuchen gebacken. Eine großartige Köchin, deine Mutter. Du musst stolz auf sie sein.«
»Ich bin stolz auf sie«, antwortete sie schnell, »und dankbar.«
»Aber natürlich, aber natürlich«, sagte der Bruder und nickte. Dann blickte er sie an, so direkt wie damals, als sie noch klein war und er ihr von der Schreckenszeit berichtet hatte, die die Welt zerrissen hatte, und von einer Vergangenheit, als es lauter Menschen gab, die nur an sich selbst dachten. Menschen, die Religionen nur geschaffen hatten, um sie zur Bekämpfung anderer Religionen zu benutzen; die dem Bösen freien Lauf gelassen hatten, weil sie nicht auf den Großen Anführer hörten, weil er damals noch nicht der Große Anführer gewesen war, sondern nur ein Arzt mit einer Idee.
»Ich höre, dass du wieder schlecht geträumt hast.«
Evies Augen weiteten sich. »Ich hatte wieder diesen Traum, das stimmt«, sagte sie mit bebender Stimme und warf einen Blick auf ihre Mutter und ihren Vater. »Aber ich wollte das nicht. Ich habe mich dagegen gewehrt. Ich habe die Betrachtungen des Großen Anführers gelesen. Ich …«
»Du hast von einem Mann geträumt, der sich um dich kümmert?«, unterbrach der Bruder sie. »Von einem Mann, von dem du glaubst, dass er dich beschützt?«
Sie nickte eifrig. »Aber ich weiß, dass er für das Böse steht. Ich werde gegen ihn ankämpfen, Bruder. Ich werde …«
Der Bruder lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück. Seine glühenden Wangen glänzten nun von Schweiß, der sich auch in Tropfen unter seiner Nase sammelte. »Ja also. Das ist interessant«, bemerkte er nachdenklich, ohne Evie aus den Augen zu lassen. Dann beugte er sich vor. »Das Gehirn ist nämlich ein gefährliches Ding. Du weißt doch, dass es dich in die Finsternis führt, wenn du es zulässt? Wie beim Reiten muss man die Zügel straff halten und ganz bei der Sache bleiben, wenn man das Ziel nicht aus den Augen verlieren will.«