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»Lucas ist gefesselt«, erklärte Linus und spähte in die Dunkelheit, wo Mr Bridges verschwunden war. »Er hat Ralph geschickt, damit der uns hineinlässt. Und Ralph hat mir eben alles gesagt, was ich wissen muss darüber, wie es jetzt weitergeht. Aber Zeit zu reden haben wir später. Jetzt haben wir zu tun.«

22

Sie huschten durch die Dunkelheit. So hatte Evie die Stadt noch nie gesehen. An jeder Ecke standen Polizeiwachen, die Versammlungsglocke läutete und von überall her strömten ängstlich aneinandergedrängte Familien mit weit aufgerissenen Augen zum Versammlungshaus. Ringsum herrschte Panik. Die Leute rannten durcheinander, verfolgt von Polizeigardisten. Evie und ihre Gruppe bogen um eine Ecke. Und da waren sie: die Versehrten. Sie kamen auf sie zu, knurrend wie wilde Tiere und mit gefletschten Zähnen. Entsetzte Stadtbewohner stoben in alle Richtungen auseinander. Gardisten mit Schlagstöcken rückten an, um sie niederzuknüppeln. Evie stürmte los und schrie »Nein«, aber Linus zog sie zurück.

»Angel wird sich um sie kümmern«, beruhigte er sie. »Hab Vertrauen.«

Und Evie versuchte, Vertrauen zu haben, aber die Polizeigardisten hatten die Versehrten fast erreicht, schwangen die Knüppel, und das Volk schrie, sie sollten die Bösen töten und die Stadt befreien, von deren verderbtem und gemeinem Einfluss.

In diesem Augenblick erstrahlte Licht, das so gleißend hell war, dass Evie die Augen schließen musste, und alle blieben einen Augenblick stehen. Als es ausging und Evie wieder etwas sehen konnte, waren die Versehrten verschwunden; das Stöhnen drang nun aus einer anderen Straße herüber, und die Polizeigardisten jagten hinterher.

Staunend stand Evie da, als ihr klar wurde, was dort vor sich ging. Denn das war kein Stöhnen, kein Wehklagen. Sie lachten. Sie dachten, das sei ein Spiel. Sie hatten ihren Spaß.

Linus bemerkte ihren Gesichtsausdruck und zwinkerte ihr zu. »Ein paar Minuten noch, dann sind sie wieder aus der Stadt draußen. Ich habe dir doch gesagt, dass ihnen nichts passiert. Jetzt aber los. In diese Richtung.«

Er marschierte zielstrebig weiter, Evie und Raffy trabten hinterher, mit Martha im Schlepptau. Es hatte den Anschein, als würden sie im Dunkeln weiter kein Aufsehen erregen; alle hasteten mit finsterer Miene und gesenktem Kopf zum Versammlungshaus und hatten nur eins im Sinn – nur fort von den Bösen. Evie stolperte hinter Linus her, und nur ein paar Minuten später erreichten sie das Regierungsgebäude, in dem sie einst so viel Zeit verbracht hatte.

»Hat sich nicht verändert«, knurrte Linus und ging weiter.

»Aber wollten wir nicht …?«, rief Evie ihm nach, doch sie brach den Satz ab, als sie sah, wo er hinging. Ins Krankenhaus. Er blieb stehen und winkte die anderen heran.

»Lucas ist da drin. Wir holen ihn erst da raus.«

Er hastete weiter, und Evie und Raffy rannten hinter ihm her, während Martha wieder die Nachhut bildete. Das Krankenhaus war verlassen. Nirgends brannte Licht, und die Stille war gespenstisch. »Hier entlang«, murmelte Linus. »So wie ich den Bruder kenne, hält er Lucas am selben Ort fest wie all die anderen. Da wo Fisher sein Gemetzel veranstaltet hat. Da wo …«

Er blieb vor einer Tür stehen und atmete tief durch. Zum ersten Mal zögerte er, zum ersten Mal wirkte auch er … verletzlich. Er drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen. »Was hab ich gesagt?«, schrie er, und der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. »Ich wusste es.« Er trat ein paar Schritte zurück und rannte gegen die Tür und trat dagegen, doch sie gab nicht nach.

»Wie wär’s damit?« Raffy hielt einen Schlüsselbund hoch.

Linus starrte darauf.

»Die lagen hinter dem Empfangstisch. Ich nehme an, jemand hat sie auf dem Weg zum Versammlungshaus in der Eile vergessen.« Jetzt lächelte Linus übers ganze Gesicht, und es sah noch faltiger aus als sonst, falls das überhaupt möglich war. Er schnappte die Schlüssel, klopfte Raffy auf den Rücken und schloss die Tür auf. Sie traten in einen großen Raum und sofort zogen alle scharf die Luft ein. Vier Betten standen da, und es roch nach Desinfektionsmittel, aber auf dem Boden waren rote Flecken, die aussahen wie … Evie erschauerte und sah weg.

Sie hätte so gern gefragt, wo Lucas war, aber etwas hielt sie davon ab – die Erinnerung an den Kuss und an die Verwirrung, die sie tief in sich verborgen hatte. Stattdessen stand sie schweigend da und sah zu, wie Martha hin und her ging, die Betten eins nach dem anderen betastete und mit den Händen daraufdrückte.

»Hier haben sie ihn festgehalten«, flüsterte sie. »In diesem Bett. Ich weiß es noch.«

Wen?, wollte Evie fragen, aber sie konnte es nicht. Sie sah zu, wie Linus zu Martha trat und ihr die Hand auf die Schulter legte. »Hier sind viele schreckliche Dinge geschehen. Geht es?«

Martha nickte. Sie wischte sich über die Augen und drehte sich zu ihm um. »Alles in Ordnung«, sagte sie entschlossen. »Tun wir das, weswegen wir hergekommen sind. Verändern wir die Dinge ein für alle Mal.«

»Braves Mädchen.« Linus drückte ihre Schulter. Dann ging er auf eine andere Tür zu. »Mal sehen, ob wir auch für die Tür hier einen Schlüssel haben …« Er schaute auf den Schlüsselbund, den Raffy ihm gegeben hatte. »Einer von denen hier könnte es sein.«

Er probierte einen Schlüssel aus, dann einen anderen. Der zweite Schlüssel passte. Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf einen kleinen, fensterlosen Raum.

»Das war mal eine Vorratskammer«, sagte Linus vergnügt. »Und du bist also Lucas?«

Evie folgte ihm hinein und sah Lucas am Boden liegen, gefesselt und geknebelt. Sein Gesicht war schwarz von Staub, aber als er sie sah, leuchteten seine Augen auf, ganz anders als die Augen, die sie so lange gekannt hatte. Und sie erwiderte seinen Blick und starrte in dieses Gesicht, das sie in ihrem Schlafzimmer vor so vielen Tagen zum ersten Mal gesehen hatte, ein Gesicht, das Schmerz, Verzweiflung, Hoffnung erlebt hatte und alles, was dazwischenlag, und sie spürte, dass sich etwas veränderte in ihr, etwas, das sie aufwühlte und erschreckte. Noch bevor sie es recht einordnen konnte, erschien Raffy neben ihr, und unwillkürlich blickte sie weg und errötete.

»Dann wollen wir dich mal losbinden, oder?«, sagte Linus und bückte sich. Martha trat zu ihm, nur Raffy und Evie hielten sich im Hintergrund. Kurz darauf war Lucas frei. Er dehnte sich, rieb sich die wunden Handgelenke und Fußknöchel und umarmte dann Linus.

»Du bist gekommen«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«

»Natürlich sind wir gekommen«, sagte Linus grinsend. »Aber jetzt haben wir einiges zu tun. Und du auch. Glaubst du, du schaffst das?«

Lucas nickte. »Alles ist bereit.«

»Dann wasch dir das Gesicht, trink etwas und dann nichts wie los.«

Linus verließ die stickige Kammer und ging durch den Schlafsaal. Lucas humpelte hinter ihm her. Immer wieder drehte er sich nach seinem Bruder um, aber Raffy sah nur auf seine Füße. Evie fing ein, zwei Mal Lucas’ Blick auf, doch sie zwang sich, gleich wieder wegzusehen, aber sobald er sich abgewandt hatte, folgte sie ihm wieder mit dem Blick, beobachtete ihn, seinen Rücken, die Art, wie er sich bewegte …

»Das Bad ist da vorn«, sagte Linus und deutete einen Korridor hinunter. Lucas nickte dankbar und hinkte dorthin. Nach etwa einer Minute kam er zurück. Sein Gesicht war nun sauber und seine Haare hatten wieder ihre gewohnte glänzende Farbe.

»Okay«, sagte er jetzt wieder in geschäftsmäßigem Ton und mit entschlossenem Blick. »Ihr verlasse euch jetzt und wir sehen uns dann in …« Er schob den Ärmel hoch und blickte auf seine goldene Uhr. Evie sah, wie Raffys Augen sich verengten. »… in fünfundvierzig Minuten. Gut?«

»Gut«, erwiderte Linus. Lucas schlich aus dem Gebäude; wenige Augenblicke später folgten Linus, Martha, Raffy und Evie, bogen nach rechts ab und dann noch einmal nach rechts zum benachbarten Regierungsgebäude. Linus drückte die Tür auf; sie war nicht verschlossen. »Rein da … Schnell.« Er hielt ihnen die Tür auf und schloss hinter ihnen ab.