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»Und was ist dann passiert?«, fragte sie, stand auf und legte Martha, über deren leidvolle Vergangenheit sie sich noch keine Gedanken gemacht hatte, die Hand auf die Schulter und versuchte, sie zu trösten, so gut sie konnte.

»Sie haben gesagt, sie würden sich um uns kümmern. Ich war mit unserem ersten Kind schwanger. Sie haben gesagt, sie würden für uns sorgen. Aber sie haben Daniel mitgenommen. Zur Neutaufe. Sie haben gesagt, ich könnte ihn danach sehen, aber … ich konnte es nicht erwarten. Ich musste es mit eigenen Augen sehen. Ich war im selben Krankenhaus und habe mich in die Abteilung für Neutaufe geschlichen. Dort habe ich ihn gesehen. Ich habe sie alle gesehen. Verstümmelt. Hirngeschädigt. Er hat mich nicht erkannt. Er war nicht mehr da. Sie hatten ihn mir genommen …« Sie ließ den Kopf nach vorn sinken und schlang die Arme um ihre Schultern.

Evie kämpfte mit den Tränen. »Das Bett«, flüsterte sie. »Das Bett in dem Schlafsaal.« Martha nickte. »Was hast du dann gemacht?«, fragte Evie kaum vernehmlich.

»Ich bin weggelaufen. Ich wusste, dass ich die Nächste sein würde; also bin ich zum Tor gerannt. Dort habe ich mich versteckt und gewartet, bis sie es aufmachen, um neue Leute hereinzulassen. Ich hätte sie warnen sollen, sie zurückschicken … Aber ich habe nur an mich gedacht. Ich bin so weit gerannt, wie ich konnte, und habe mich im Wald versteckt. Ich habe geweint, getobt; ich bin fast gestorben.« Sie holte tief Atem, öffnete die Augen und rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe mein Kind verloren. Dann hat Linus mich gefunden. Und da hat mein Leben wieder neu angefangen.«

Evie starrte sie mit offenem Mund an. Sie war so in dem Wissen gefangen gewesen, dass die Stadt ihr ihre Eltern weggenommen hatte, dass es ihr nie in den Sinn gekommen war, dass sie nicht die Einzige war; sie war nicht allein mit der Wut, die sie mit sich herumschleppte, mit der Bitterkeit und mit dem Gefühl, verraten worden zu sein.

»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Das mit den Versehrten. Dass sie dir egal wären.«

Martha ergriff Evies Hand. »Ist schon gut. Ich verstehe dich. Wir alle verstehen dich. Die meisten haben Angehörige verloren. Aber sie sind verloren, Evie. Sie sind nicht mehr die, die sie waren. Wir können sie suchen, aber wir können sie nie wieder finden. Wir können sie nie wieder …« Sie schniefte und wischte sich über die Augen. »Aber das ist schon so lange her. Du und Raffy … ihr scheint einander wirklich glücklich zu machen. Da tut es einfach weh, wenn man sieht, dass ihr so unglücklich seid.«

»Ist das so offensichtlich?«, fragte Evie. Martha nickte.

»Ich weiß«, sagte Evie. »Und es ist meine Schuld. Ich habe etwas vor ihm verheimlicht, das ich getan habe. Er hat mir vertraut und … ich habe sein Vertrauen missbraucht. Und dann habe ich es ihm erzählt. Und jetzt hasst er mich.«

Martha schien darüber nachzudenken. »Du glaubst, dass er dich hasst? Nein. Er ist wütend auf dich, nehme ich an. Er will dich bestrafen. Aber er hasst dich nicht. Er liebt dich. Ich sehe es in seinen Augen, wenn er dich anschaut. Er liebt dich über alles und er braucht dich.«

Evie hatte ein sonderbares Gefühl in der Magengrube. »Meinst du? Wirklich? Ich liebe ihn nämlich … so. Schon immer.«

»Und ich weiß, dass er dich auch liebt«, sagte Martha lächelnd. »Schau mal, wir sind fast fertig, oder? Ändern wir noch die restlichen Ränge und dann sehen wir nach den beiden, nach Raffy und Linus. Sag ihm, wie es um dich steht, dann glaube ich, dass er dir verzeiht. Ich bin ganz sicher.«

Evie spürte, wie ein Lächeln sich in ihr Gesicht stahl, und sie verstand, was für ein Gefühl sich da in ihrer Magengrube ausbreitete. Es war Hoffnung. »Okay«, sagte sie, markierte mit einer schwungvollen Handbewegung die letzten Namen, machte sie zu As und stand mit leuchtenden Augen auf. »Also gut, gehen wir.«

23

Leise stiegen sie die Treppe hinauf in den sechsten Stock. Hier war Evie noch nie gewesen, sie hatte keine Befugnis, ihn zu betreten. Doch sie fand sich sofort zurecht, denn alle Stockwerke waren gleich angelegt, und Raffy hatte ihr den Weg zu dem Raum gut beschrieben. Er saß da, über einen Computer gebeugt.

»Gleich fertig«, rief er, als sie die Tür öffneten. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«

Sie gingen in den Raum und Raffy sah auf. Falls er sich über ihr Kommen freute, so ließ er es sich nicht anmerken. »Oh, entschuldigt. Ich dachte, es wäre Linus.«

Evie spürte, wie der Mut sie verließ. Das war keine gute Idee. Sie konnte jetzt nicht mit Raffy reden. Es gab nichts zu sagen.

»Wo ist Linus?«, fragte Martha.

»Er ist rausgegangen«, sagte Raffy, der sich schon wieder auf seinen Computer konzentrierte und mit gerunzelter Stirn in die Tasten tippte. »Er wollte etwas holen.«

»Was holen?«, fragte Martha ziemlich schroff.

Raffy blickte ungeduldig auf. »Keine Ahnung. Irgendwas. Er hat gesagt, er wäre gleich wieder da.«

»Und wann war das?«

Raffy seufzte. »Ich weiß nicht. Vor ein paar Minuten. Zwanzig Minuten vielleicht. Ist das wichtig? Ich bin fast fertig. Ich muss mich nur noch ein paar Minuten konzentrieren …«

Martha sah auf die Uhr an der Wand. »Zwanzig Minuten? Wozu kann er zwanzig Minuten brauchen?«

Raffy schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich weiß es nicht, okay? Er kommt gleich wieder. Aber wenn ich hier nicht fertig werde …« Er hob vielsagend die Augenbrauen und Martha setzte sich.

Evie folgte ihrem Beispiel. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, in dem Lucas gearbeitet hatte, so als könnte er etwas zurückgelassen haben – als wäre ein Teil von ihm noch immer hier. Hin und wieder warf sie einen kurzen Blick auf Raffy. Was dachte er? Was dachte er wirklich? Was würde er antworten, wenn sie ihm sagte, dass sie ihn liebe, dass es ihr leidtue? Würde sie überhaupt die Gelegenheit dazu bekommen? Im Augenblick existierte sie jedenfalls nicht für ihn. Dann blickte er endlich auf.

»Okay«, sagte er und seufzte. »Fertig.«

»Fertig?« Martha sprang auf und trat an den Computer. »Du hast das Programm umgeschrieben?«

»Genau wie Linus es mir gesagt hat. Es kann jetzt nicht mehr orten. Es ist deaktiviert. Es kann eigentlich nicht mehr besonders viel.«

Martha schwieg einen Moment lang. »Ich suche Linus«, sagte sie. »Wartet hier auf mich.« Sie schlüpfte zur Türe hinaus und es wurde sehr still im Raum.

Evie holte tief Luft und stand auf. »Raffy.«

Er wandte sich zu ihr um. Er sah sie nicht direkt feindselig an, aber es fehlte nicht viel. »Ja?«

»Raffy, es tut mir leid. Ich will, dass du das weißt. Es tut mir wirklich sehr leid. Das mit Lucas. Ich … ich habe nie etwas für ihn empfunden. Gar nichts. Es war nur so, dass er mir in dieser Nacht so … so gebrochen vorkam. So verletzlich. Ich hatte schreckliche Angst, und ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber du musst wissen, dass ich dich liebe – nur dich. Mit dir bin ich geflohen und mit dir will ich zusammen sein. Für immer. Und es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe, und ich hasse mich dafür.«

»So?«, sagte Raffy. Seiner Stimme nach war ihm die Sache völlig gleichgültig, aber seine Augen sagten Evie etwas anderes und gaben ihr Hoffnung. Sie waren voller Schmerz und Trotz – dieselben Augen, die ihr damals fast das Herz zerrissen, als er seinen Vater verloren hatte und selbst gejagt und geächtet wurde. Augen, die sie zum Weinen brachten, weil sie dieses Mal schuld war an seinem Leid.

»Ja«, antwortete sie bestimmt und ging langsam auf ihn zu. »Raffy, ich war so unglücklich. Ich musste es dir erzählen, damit du die Wahrheit weißt. Ich wollte nicht, dass eine Lüge zwischen uns steht. Ich will, dass du mich liebst, Raffy. Alles an mir. Auch wenn ich manchmal etwas Dummes tue.« Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie wischte sie weg, denn sie wollte kein Mitleid, wollte nicht getröstet werden.