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Raffy schwieg einen Augenblick. »Meinst du das wirklich ernst? Ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat. Gerade eben, als wir bei ihm waren. Hast du ihn auch angeschaut?«

Evies Herz setzte einen Moment aus. »Bestimmt nicht. Raffy, es hat immer nur uns beide gegeben. Nur dich und mich.«

»Aber warum musstest du ihn dann küssen?«, fragte er, und dann wurde seine Stimme brüchig. »Warum ausgerechnet der Mensch …? Warum Lucas?«

»Weil er dir das Leben retten wollte«, flüsterte Evie. »Weil mir klar geworden ist, dass er die ganze Zeit auf deiner Seite war. Ich will dich, Raffy, nicht ihn. Ich empfinde nichts für ihn. Gar nichts. Du musst mir glauben. Du musst …«

Sie sah zu ihm auf, und alles verschwamm ihr vor den Augen, weil sie sich mit Tränen füllten, und plötzlich war Raffy bei ihr, hielt sie fest und küsste sie – ihren Mund, ihre Nase, ihren tränennassen Hals … Und sie klammerte sich an ihn und küsste seinen Hals, seinen Mund, und einen Augenblick lang hätten sie irgendwo sein können, weit, weit weg von der Stadt, vom System und von allem, was sie so lange zurückgehalten hatte.

»Ich liebe dich«, murmelte er ihr ins Ohr. »Ich habe dich immer geliebt.«

»Ich habe dich auch immer geliebt«, flüsterte Evie. »Immer.«

Und dann hielten sie sich aneinander fest, als müssten ihre Körper verschmelzen, als hätten sie Angst, loszulassen, und es kam ihnen vor wie Stunden, obwohl es nur Sekunden gewesen sein konnten.

Die Tür ging auf, und langsam und widerstrebend lösten sie sich voneinander, doch sie ließen sich nicht ganz los. Evie fragte sich, ob sie ihn jemals wieder ganz loslassen konnte.

Doch als sie sich umwandten und Martha und Linus begrüßen wollten, erstarrten sie, ihre Augen weiteten sich, und bei jedem von beiden begann das Herz schneller zu schlagen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

»Lucas!«, rief Raffy aus, als er ihn sah. Evie nahm ganz verschwommen wahr, dass er sich von ihrer Seite löste, ohne Vorwarnung losstürzte und Lucas zu Boden riss und auf ihn einschlug.

»Du Mistkerl! Du kannst es nicht zulassen, dass ich irgendetwas für mich habe?«, tobte er. »Du hast mir meinen Vater genommen und dann alle meine Freunde. Und du musstest mir auch noch Evie nehmen. Du musstest es versuchen.«

»Raffy, hör auf«, sagte Lucas zwischen zusammengebissenen Zähnen, während er einen Schlag nach dem anderen einsteckte. Und dann sah Evie zu ihrer Überraschung, wie Lucas die Hände seines Bruders packte und sie ihm auf den Rücken drehte. Er tat das in einer fast mühelosen, geschmeidigen Bewegung und mit einer Kraft, wie Evie es zuvor nur ein einziges Mal bei ihm gesehen hatte – gegen die Peiniger von Mr Bridges. Raffy wurde zu Boden gedrückt, und er trat um sich, hilflos und enttäuscht, wie ein Käfer auf dem Rücken. Lucas presste seine Knie auf Raffys Beine, sodass Raffy stillhalten musste.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte er leise.

Raffy schüttelte den Kopf, schäumend vor Wut. »Niemals.«

Lucas blickte auf Raffy hinunter und seine Augen umwölkten sich. Er schien plötzlich müde zu sein. Raffy bemerkte es und wollte sich aus dem Griff herauswinden, doch Lucas war zu schnell für ihn und drehte ihn auf den Bauch, sodass er ihm das Kinn gegen den Boden presste.

»Du musst mir zuhören«, sagte Lucas leise. »Es war nicht meine Schuld, dass Vater abgeholt wurde. Er wusste, dass man ihn zum K erklären wollte. Der Bruder wollte ihn aus dem Weg räumen. Deshalb hat er mich eingeweiht. Er hat gesagt, ich soll ihn verraten, damit ich frei bin von jedem Verdacht. Er hat mir gesagt, wie ich mich in der Hierarchie hinaufarbeiten und wie ich ins System eindringen kann, damit ich seine Arbeit fortsetze. Ich musste es ihm versprechen, Raffy.«

»Und deshalb hast du Evie geküsst? Du tust so, als würdest du mir helfen, aber das stimmt nicht, Lucas. Ich weiß nicht, was für ein Spiel du spielst, aber ich durchschaue dich, auch wenn es sonst niemand tut.«

»Ich habe Evie geküsst, weil … weil …« Lucas sah auf, begegnete Evies Blick, und etwas in ihr machte einen Satz, sodass sie erschauerte – war es Schmerz, Angst, Verlangen? – und die Augen niederschlug. »Ich weiß nicht, warum. Es war dumm.«

Die Antwort versetzte Evie einen Stich der Enttäuschung, doch sie verdrängte das Gefühl sofort. Ängstlich sah sie, wie Lucas seinen Bruder losließ, aber Raffy rührte sich nicht, sondern starrte Lucas herausfordernd an.

Lucas seufzte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Okay? Das alles tut mir leid. Wirklich, Raffy. Ist es das, was du hören willst?«

Raffy rollte sich auf die Seite, stand auf und humpelte wieder zu Evie hin. »Tja, also, mir tut es auch leid«, sagte er. »Leid für dich.«

Lucas nickte stumm. Er vermied es, Evie anzuschauen; sie bemerkte es, weil auch sie es vermied. Sie traute sich nicht, ihn anzuschauen, traute den Gefühlen nicht, die das auslösen könnte. Stattdessen nahm sie Raffys Hand, drückte sie und hielt sie fest. War es dumm gewesen? Natürlich. Dumm war genau das richtige Wort.

Lucas stand langsam auf. »Wo sind eigentlich Linus und Martha? Es ist alles bereit, sodass ihr loskönnt.«

»Genau, wo ist er?«, fragte Martha, die eben in den Raum trat. »Ich habe ihn überall gesucht, aber ich finde ihn nicht.«

Lucas fuhr erschrocken herum. »Das verstehe ich nicht. Alles läuft wie ein Uhrwerk. Wo kann er nur hingegangen sein?«

Martha verzog das Gesicht. »Er könnte überall sein. Das ist typisch für Linus. Man weiß nie genau, was er denkt, hinter diesem ewigen Grinsen.«

Lucas legte die Stirn in Falten. »Soll ich euch stattdessen zum Tor bringen?«, fragte er, doch Martha schüttelte den Kopf.

»Wir gehen nicht ohne ihn«, erklärte sie. »Aber inzwischen müssten doch alle im Versammlungshaus sein, oder?«

Lucas nickte.

»Und der Bruder?«

»Der ist auch dort – gefesselt im Hinterzimmer. Mr Bridges passt dort auf ihn auf, aber …«

»Aber du musst jetzt auch dorthin zurück«, sagte Martha. »Das verstehe ich, und ich glaube, wir sollten alle mitkommen.«

»Zum Versammlungshaus?«, fragte Raffy unsicher. »Aber wir sollten doch eigentlich verschwinden. Wenn sie uns sehen … Wenn die Polizeigarde erfährt, dass wir hier …«

»Ja, aber wie ich Linus kenne, und ich glaube, ich kenne ihn ziemlich gut, kann er eigentlich nur zum Versammlungshaus gegangen sein«, sagte Martha. »Und wenn er dort ist, dann müssen auch wir dorthin.« Sie wandte sich an Lucas. »Kannst du uns so dorthin bringen, dass uns niemand sieht?«

»Klar.« Lucas nickte.

»Dann los«, sagte Martha mit entschlossener Miene. »Gehen wir und holen ihn.«

Die Straßen lagen verlassen da, dennoch liefen sie tief geduckt, drückten sich dicht an die Hauswände, blickten verstohlen um sich und zuckten beim leisesten Geräusch zusammen. Die Versehrten waren fort; vermutlich hatte Angel sie in aller Heimlichkeit wieder nach draußen gebracht, und eine gespenstische Stille lag über der Stadt. Alle waren nun im Versammlungshaus – alle, bis auf die Polizeigarde, die weiter durch die Straßen patrouillierte. Keiner sprach, während sie sich weiter in die Stadt hineinschlichen, hin zu den Menschen, denen sie, jeder auf seine Weise, entkommen waren.

Evies Kehle war wie zugeschnürt vor Angst. Raffy ging rechts neben ihr. Immer wieder nahm er sie an der Hand, warf ihr einen Blick zu oder drückte ihre Schulter. Dann sah sie ihn an, lächelte und nickte zum Zeichen, dass alles in Ordnung war. Und Lucas wandte sich immer wieder um und flüsterte Martha etwas zu und sah Evie dabei in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick dann ein oder zwei Sekunden lang, bevor sie sich zwang, die Augen abzuwenden, und ängstlich zu Raffy schaute, um zu sehen, ob er etwas bemerkt hatte, ob er Bescheid wusste.

Aber Raffy blickte geradeaus, immer geradeaus.

»Okay, wir sind da«, sagte Lucas. Sie kamen zur Rückseite des Versammlungshauses, über einen Weg, auf dem Evie noch nie gegangen war. »Wartet hier und bleibt in einer dunklen Ecke. Ich gehe hinein und schaue, ob ich Linus finde.«