»Ich komme mit«, verkündete Raffy. Lucas sah ihn prüfend an und schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich«, entgegnete er. »Du musst hierbleiben und dich verstecken.«
»Weil ich ein K bin? Du bist doch jetzt auch ein K. Warum ist es für mich gefährlich und für dich nicht?«
»Weil …« Lucas räusperte sich. Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte. Dann legte er Raffy die Hände auf die Schultern. »Weil mich niemand vermisst, wenn ich sterbe. Ich habe getan, worum Dad mich gebeten hat. Du … Evie braucht dich. Du musst auf sie aufpassen.«
Raffy wollte etwas sagen, dann wandte er sich um und sah Evie an, die ihn verzweifelt anstarrte, weil sie ihn nicht gehen lassen, aber auch nicht zurückhalten wollte.
»Bin gleich wieder da«, sagte Lucas und beendete das Schweigen. Dann machte er sich allein auf. Genau wie immer, dachte Evie.
Das Versammlungshaus war brechend voll, genau wie Lucas es erwartet hatte. Die ganze Bevölkerung der Stadt war in den höhlenartigen Mauern zusammengekommen. Alle redeten besorgt miteinander, fragten herum und tauschten Vermutungen aus, sodass ein fast ohrenbetäubendes Summen entstand. Lucas hatte Mühe, alles auszublenden, während er sich zu dem Hinterzimmer durchdrängte, wo er den Bruder zurückgelassen hatte. Wo konnte Linus nur sein? Beim Bruder? Vergewisserte er sich, ob Lucas gute Arbeit geleistet hatte? Oder wo sonst? Wenn Linus sich in der Menge befand, würde er ihn nie finden. Lucas seufzte; auf dem Weg zum Hinterzimmer wurde ihm klar, dass er Linus kaum kannte, dass er jahrelang einem Mann vertraut hatte, über den er so gut wie nichts wusste.
Aber sein Vater hatte Linus vertraut und das genügte. Es musste genügen.
Er kam zu der Tür, vor der Mr Bridges wartete. »Danke«, sagte Lucas. »Vielen Dank. Sie können jetzt gehen. Sie haben mir sehr geholfen.«
Mr Bridges sah sich ängstlich um. Lucas legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Bruder hat Sie nicht gesehen, er weiß nicht, wer ihn bewacht hat. Niemand weiß, dass Sie mir geholfen haben. Gehen Sie und setzen Sie sich in die Versammlung – und morgen schon hat sich Ihr Rang geändert, endgültig, so wie bei allen anderen Bewohnern auch. Und die Ränge werden sich nicht wieder ändern. Das System ist deaktiviert. Es gibt keine Ränge mehr. Sie sind frei. Verstehen Sie?«
Mr Bridges nickte, doch in seinem Blick stand immer noch Angst.
»Und Sie?«, fragte er. »Was passiert mit Ihnen?«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Lucas lächelte. »Es gibt noch etwas, was ich erledigen muss, das ist alles. Aber nochmals danke. Ich kann Ihnen gar nicht sagen …«
»Nicht der Rede wert«, unterbrach ihn Mr Bridges. »Das war doch das Mindeste, das ich tun konnte. Als ich Ihnen damals gesagt habe, ich würde mich für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen, war das auch so gemeint.« Er streckte ihm zitternd die Hand hin und Lucas ergriff sie. »Sie sind ein mutiger Mann«, flüsterte Mr Bridges. »Ein guter Mann. Ich hoffe, dass Sie eines Tages auch ein glücklicher Mann sein können.« Mit diesen Worten ging er, tauchte ein in die Dunkelheit auf dem Weg zum großen Saal, zurück zu seiner Gemeinschaft, zurück dorthin, wo er hingehörte. Lucas sah ihm eine Weile nach und fragte sich, ob er selbst jemals irgendwohin gehören würde … Er riss sich zusammen. Er gehörte hierher, und zwar jetzt. Er musste Linus finden. Er musste zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Er atmete durch, zog den Schlüssel hervor und öffnete die Tür.
Der Bruder, geknebelt und an einen Stuhl gefesselt, so wie er ihn verlassen hatte – das war die Szenerie, die er erwartet hatte, doch das Zimmer war leer. Keine Spur vom Bruder; keine Spur von irgendjemandem.
Er fuhr herum, wollte Mr Bridges rufen und fragen, was passiert war, doch es war zu spät, Mr Bridges war längst weg; unmöglich, ihn zu finden. Mr Bridges hätte den Bruder nicht gehen lassen. Aber niemand sonst hatte gewusst, wo der Bruder war. Lucas rannte zum einzigen Fenster in dem Raum, hoch oben in der Wand, reckte sich und zog am Griff; es war offen. Der Bruder war also entkommen, ohne Wissen von Mr Bridges. Aber wie? Wie konnte er sich aus den Fesseln befreien, wo Lucas doch selbst die Knoten festgezogen hatte? Seine Gedanken rasten, sein Puls ging schneller, und der Schweiß brach ihm aus, als ihm klar wurde, wie verzweifelt die Lage war. Er hörte lautes Schreien und erschrak, als er eine der Stimmen erkannte. Er sprang am Fenster hoch, doch es war zu weit oben, und er konnte nicht sehen, was unten vor sich ging. Er rannte aus dem Raum und über den Korridor auf die Tür zu, durch die er in das Gebäude gekommen war. Eine Stimme war die des Bruders gewesen, die andere hatte er nicht erkannt, aber er hatte einen Verdacht. Er musste sie zum Schweigen bringen, bevor die Leute etwas hörten, bevor alles, was sie so minutiös geplant hatten, zunichtegemacht war. Ohne sich darum zu kümmern, wer ihn sehen konnte, riss Lucas die Tür auf und rannte um das Gebäude herum zu der Stelle, wo er die Stimmen gehört hatte.
»Lucas.« Es war der Bruder, der das sagte. Er stand mit dem Rücken zum Gebäude, vor ihm stand Linus. Ein paar Sekunden lang musterte Lucas den Mann, den er schon so lange entfernt kannte. Im Krankenhaus war er zu benommen gewesen, um viel mitzubekommen. Linus war groß und gut gebaut, athletischer, als Lucas ihn sich vorgestellt hatte, mit kurzen grauen Haaren. Er drehte den Kopf, um Lucas zu begrüßen. Sein Gesicht erinnerte ihn an einen überreifen Pfirsich, voller Falten und Linien wie eine ausgedörrte Landschaft. Voller Wärme, aber zäh und stark – das Gesicht von einem, der überlebte, wo andere aufgaben. »Lucas«, sagte er mit einem Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete. »Es ist gut, dich zu sehen. Sind die anderen schon weg?«
Sam starrte auf die Wand vor ihm. Verlor er gerade den Verstand? Hatte er tatsächlich gesehen, wen er glaubte, gesehen zu haben? Mit schnellen Schritten ging er auf den Eingang des Versammlungshauses zu. Noch immer keine Spur vom Bruder, trotz dessen klarer Anweisung, ihn hier zu treffen – schon vor einer halben Stunde. Und jetzt Lucas. Es war Lucas gewesen. Er wusste es. Diese aufrechte Körperhaltung hätte er überall erkannt. Aber wenn Lucas hier war und der Bruder nicht …
Er machte kehrt und marschierte zur Rückseite des Gebäudes, wo zwei Polizeigardisten Wache hielten und den Bürgern versicherten, dass sie drinnen sicher seien, dass die Bösen sie an so einem heiligen Ort nicht belästigen würden. »Ich glaube, ihr könntet etwas Verstärkung gebrauchen«, sagte Sam.
»Verstärkung?«, fragte ein Gardist verwundert. »Es gibt keine Verstärkung. Alle jagen hinter den Bösen her. Warum? Was ist los?«
»Der Bruder ist verschwunden und eben habe ich einen K im Gebäude gesehen«, sagte Sam und zog die Augen zu Schlitzen zusammen. »Rufen Sie also bitte Verstärkung, sonst muss ich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.« Er drehte sich ein Stück zur Seite, damit der Gardist seine Plakette sehen konnte mit der Goldlitze darauf, die Sam als einen Auserwählten des Bruders kenntlich machte.
Der Gardist wurde bleich und nickte. »Ja, Sir. Ich werde mich sofort darum kümmern. Verlassen Sie sich darauf, Sir.«
»Gut«, sagte Sam und rauschte davon.
24
»Linus, das ist nicht das, was wir ausgemacht haben.«
Lucas drehte sich um und sah, dass Martha auf sie zukam, die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihr waren Raffy und Evie. Lucas löste den Blick von Evie und wandte sich wieder zu Linus hin.
»Aha«, sagte Linus. »Sie sind also noch da.«
»Sie wollten nicht ohne dich gehen«, sagte Lucas. »Sag mir, was der Bruder hier draußen macht. Es war vereinbart, dass wir ihn im Versammlungshaus lassen. Der Plan …«
»Pläne ändern sich«, erklärte Linus und grinste. »Der Bruder und ich haben uns gerade eine bisschen unterhalten – mussten einiges nachholen.« Er lächelte wieder – tausend Spielarten von Lächeln, die in einem einzigen Gesicht eingefangen waren, dachte Lucas.
»Wir sind hier nicht sicher«, erklärte Lucas. »Wir müssen weg.«