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»Lucas, mein Freund«, sagte Linus mit blitzenden Augen. »Du hast recht wie immer. Aber es zahlt sich aus, wenn man flexibel ist, meinst du nicht auch? Und der Bruder und ich sind sowieso gleich fertig.«

Der Bruder sah ihn an, als wäre er ein Ungeziefer. »Wir waren schon vor langer Zeit fertig, Linus.«

»Tatsächlich?«, sagte Linus verblüfft. »Oh je. Dann habe ich mich ja vielleicht geirrt. Vielleicht war dieser Ausflug umsonst.« Er ging los, von allen beobachtet, dann blieb er stehen, drehte sich um und lächelte wieder.

»Ach, du willst mich nur reizen, stimmt’s? Wir wissen doch beide, dass wir etwas besprechen müssen. Und da wir gerade nichts Besseres zu tun haben, warum nicht miteinander reden?« Er trat ganz dicht an den Bruder heran und sagte leise und drohend: »Also, reden wir.«

Lucas fing einen Blick von Martha auf, in dem die Frage stand, ob er eingreifen solle, aber sie schüttelte den Kopf und wich zurück. Lucas tat es ihr gleich, wobei sein Blick unwillkürlich zu Evie wanderte. Ihre weiße Haut leuchtete geradezu im Mondlicht, und sie hatte ihre klugen Augen auf Linus geheftet, ohne das geringste Anzeichen von Furcht. Neben ihr stand Raffy, bei dem sich die Gefühle wie immer so offen im Gesicht spiegelten, dass man sie beinahe mit Händen greifen konnte. Sein Körper war gespannt und sprungbereit; die Haare kräuselten sich um sein Gesicht, genauso ungebärdig wie er selbst.

»So, Bruder. Gehst also immer noch mit deinen Lügen hausieren, was? Richtest immer noch das Leben der Menschen zugrunde?«

Der Bruder sah ihn mit steinerner Miene an. »Du weißt und ich weiß, Linus, dass in schwierigen Zeiten schwierige Entscheidungen nötig sind. Mut zu den eigenen Überzeugungen. Ein Plan. Du hast das nie verstanden. Du warst zu idealistisch. Aber Idealismus hat keinen Platz in der wirklichen Welt.«

»Die wirkliche Welt«, sagte Linus nachdenklich, wich zurück, machte ein paar Schritte nach links und ging dann wieder zurück. »Und das hier ist die wirkliche Welt?«

»Ja«, antwortete der Bruder. »Wir haben eine Gemeinschaft. Haben Mäuler zu stopfen, Kinder großzuziehen, Güter zu liefern und eine Stadt zu beschützen. Meine Leute sind da drin. Lass mich zu ihnen gehen.«

»Deine Leute?« Linus blickte ihn ungläubig an. »Glaubst du wirklich, wenn du alle belügst und ihnen erzählst, das System könne ihnen in die Seele schauen und ihnen den richtigen Rang zuweisen, dann wäre das der richtige Weg, um das alles zu erreichen?« Drohend ging er noch näher zum Bruder hin, aber dieser zuckte nicht zurück.

»Das System funktioniert«, sagte er. »Mein System. Nicht deins.«

»Funktioniert so, dass sich die meisten erbärmlich fühlen und sich selbst hassen? Dass die Leute glauben, die Narbe an ihrer Schläfe zeugt davon, dass ihnen der böse Teil des Gehirns entfernt wurde, wo man ihnen in Wirklichkeit nur einen Chip eingepflanzt hat, mit dem sich feststellen lässt, wo sie sind und was sie gerade tun? Sehr interessant.« Linus lächelte wieder, doch dieses Mal bildeten sich kaum Falten, und seine Augen waren kalt. »Du bist ein Betrüger und ein Lügner. Du hast meine Träume genommen und einen Albtraum daraus gemacht. Aber jetzt ist es vorbei, Bruder. Dein System ist ausgeschaltet und jetzt schalte ich dich aus.«

Er griff in seine Manteltasche, erstarrte, probierte die andere Tasche, seine Hosentaschen und tastete sich panisch ab.

»Was verloren?«, fragte der Bruder, und ein ganz leichtes Lächeln stahl sich nun auch in sein Gesicht. »Oh je. Du warst noch nie gut in praktischen Dingen, Linus. Und jetzt dreh dich um. Dann siehst du, dass meine Polizeigarde angerückt ist.«

Alle fuhren herum. Ein Mann kam mit zehn Polizeigardisten anmarschiert, alle mit Schlagstöcken bewaffnet. Lucas’ Magen krampfte sich zusammen vor Angst und vor Wut.

»Linus!«, rief er. »Linus, was hast du getan? Wir hätten längst gehen sollen. Wir hätten …«

»Meine Pistole«, sagte Linus, der Lucas offenbar nicht hörte. »Wo ist meine Pistole? Wo ist …«

Ein Polizeigardist sprang vor und packte ihn, ein anderer hielt Raffy und Martha fest.

»Lasst sie los!« Lucas’ Augen weiteten sich, als er sah, dass Evie vortrat, die Arme ausgestreckt, und dass in ihren Händen etwas schimmerte. Er konnte nicht atmen, nicht denken, nicht begreifen. Dann drehte sie sich um und er sah den Hass in ihren Augen und er zuckte zusammen. »Lasst sie los!«, bellte sie noch einmal, und die Polizeigardisten wichen augenblicklich zurück.

Ein Schrei ertönte. Hinter den Polizeigardisten strömten die Menschen aus dem Versammlungshaus. Offenbar hatte sich herumgesprochen, dass der Bruder draußen war, dass da etwas im Gange war. Zögernd, vorsichtig kamen sie näher und schlossen einen Kreis um Linus, den Bruder, die Polizeigardisten, Lucas, Martha, Raffy und Evie, doch in einigen Metern Abstand, und drängten sich dicht zusammen. Sie schrien laut auf vor Angst, als sie Lucas, Raffy und Evie erkannten, und kreischten jedes Mal, wenn Evie sich umwandte und zu ihnen hinblickte. Doch Lucas sah die Menge kaum, bemerkte kaum, dass es jetzt keinen Ausweg mehr gab und kein Entrinnen. Das Einzige, was er sah, war Evie, die eine Waffe in den Händen hielt, mit ruhiger Miene und kaltem Blick. Genau wie sein eigener Blick, dachte er und erschrak.

Zufrieden, dass ihre Freunde nun frei waren, richtete Evie die Pistole auf den Bruder. Auch seine Augen waren auf Evie geheftet. »Evie, leg die Waffe weg«, befahl er. »Das ist ein Werkzeug des Bösen, der Folter. Sie gehört nicht in deine Hände. Leg sie weg.«

»Ich will sie nicht weglegen«, entgegnete sie, und ihre Stimme zitterte nicht, verriet keinerlei Furcht. »Ich bin böse, das wisst Ihr doch. Ich habe einem Killable zur Flucht verholfen. Das macht mich auch zum K, richtig? Richtig?« Sie fuhr herum und richtete die Waffe kurz auf die Polizeigarde, dann auf die Menge. Wieder gellten Schreie und alle wichen zurück. Sie zielte wieder auf den Bruder, der sich zu einem Lächeln zwang.

»Evie«, begann er behutsam. »Evie, du bist noch jung. Du verstehst das nicht. Du bist kein K. Du brauchst Hilfe, Evie, das ist alles.«

»So wie die Hilfe, die ich für meine Träume gebraucht habe?«, fragte Evie.

Der Bruder erbleichte. »Evie, wir haben deine Träume aufgelöst. Wir haben erkannt …«

»Dass ich von der Stadt geträumt habe?«, fragte Evie in schneidendem Ton. »Und nicht von meinen richtigen Eltern? Meinen Eltern, die der Große Anführer mit Eurer Einwilligung verstümmeln durfte, bevor Ihr sie wieder aus der Stadt gejagt habt? Meinen Eltern, denen man mit Eurer Zustimmung das Gehirn zerstört hat, sodass sie zu Bösen wurden?«

Die Menge hielt erschrocken den Atem an. Aus dem Gesicht des Bruders war alle Farbe gewichen. »Ich weiß nicht, wo du so etwas gehört hast, Evie, aber das sind Lügen, lauter Lügen. Es …«

»Ich kann mich noch an sie erinnern«, sagte Evie und ging langsam auf ihn zu. »Ich weiß noch, wie wir hier ankamen. Sie waren voller Hoffnung. Aber Ihr …«

»Ich habe immer gewusst, dass sie nichts taugt!«, ertönte es aus der Menge, und eine Frau drängte sich nach vorn. Lucas erkannte Evies Mutter. »Wir haben dich aufgenommen, haben dir ein Zuhause gegeben und dich großgezogen wie eine eigene Tochter, und jetzt schau dich an: genau wie deine richtigen Eltern. Böse. Wertlos.«

»Nein!«, schrie Evie und richtete die Pistole auf sie. »Nein, sie sind nicht wertlos. Du bist es. Du hast mich gestohlen. Du hast mich angelogen.«

Ihre Mutter starrte ihr einen Moment lang ins Gesicht, dann rannte sie zurück in die Menge. Evie wandte sich wieder an den Bruder. »Meine richtigen Eltern waren nicht wertlos. Sie haben mich so geliebt, wie ich war. Sie haben mich geliebt. Aber du … du hast mich angelogen.«

»Wir haben dich beschützt«, erwiderte der Bruder energisch. »Deine Eltern konnten nicht in die Stadt aufgenommen werden. Die Neutaufe konnte ihnen nicht mehr helfen. Sie waren …«

»Die Neutaufe funktioniert nicht!«, schrie Evie. »Niemand hier hat sie bekommen. Gib es zu! Sag es allen!« Sie drehte sich um und blickte über die Menge vor ihr. »Die Neutaufe funktioniert nicht. Sie hat nie funktioniert. Aber sie versehrt und schädigt die Menschen. Und diese Versehrten, das sind die Bösen. Sie haben als Einzige die Neutaufe erhalten. Und deshalb sind sie so geworden. Es war nicht ihre Schuld. Sie sind nicht böse. Sie sind nur geschädigt. Genau wie meine Eltern. Geschädigt und dann aus der Stadt geworfen und dazu benutzt, uns allen Angst einzujagen. Aber ich habe keine Angst, Bruder. Du bist der, der Angst haben sollte. Denn ich werde dich töten, so wie du meine Eltern getötet hast.«