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»Hast du Lucas heute gesehen?«

Evie wandte sich um. »Ja, Mutter.«

»Wenn du erst seine Frau bist«, sagte sie, »dann ist er für dich verantwortlich. Pass bloß auf, dass du ihn nicht verärgerst, Evie.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Evie aufgebracht. »Das würde ich nie tun.«

»Und dabei verärgerst du mich ständig und ohne jede Hemmung, oder etwa nicht?«

Evie ließ die Bürste sinken. »Ich will dich nicht verärgern«, sagte sie leise.

Ihre Mutter lachte freudlos auf. »Das willst du nicht? Lüg nicht, Evie. Du machst das doch mit Absicht. Warum sonst solltest du dich so verhalten? Warum schreist du ständig im Schlaf? Warum arbeitest du weiter beharrlich für die Regierung, anstatt mich ins Näherinnenviertel zu begleiten, wo ich auf dich achtgeben kann. Warum immer dieser verstohlene, geheimnisvolle Blick, mit dem du das Böse förmlich einlädst in dein Leben, anstatt es zu vertreiben?«

Evie starrte sie unsicher an und holte tief Atem. Sie musste ruhig bleiben. Sie musste dem Drang widerstehen, wütend zu werden, zu streiten und ihre Mutter damit nur noch mehr davon zu überzeugen, dass sie das Böse einlud. Niemand stritt in der Stadt. Schon gar nicht mit den eigenen Eltern. Evie fragte sich allerdings manchmal, ob das daran lag, dass niemand sonst Delphine als Mutter hatte. »Der Bruder hat dir meinen Traum doch erklärt«, sagte sie, als sie sicher war, dass sie ihre Stimme wieder im Griff hatte. »Und ich dachte, du freust dich, dass ich für die Regierung arbeite. Ich dachte …«

»Du dachtest? Nein, Evie. Du hast einfach nur gemacht, was du wolltest, ohne darüber nachzudenken. Was, glaubst du, denken die anderen Näherinnen von mir, wenn meine eigene Tochter nicht bei mir arbeiten will? Weißt du, wie das aussieht?«

Evie blickte ihre Mutter an. »Das hast du mir noch nie gesagt«, antwortete sie betroffen. »Du hast gesagt, dass du froh bist, dass ich Arbeit habe. Eine angesehene Stelle, die …«

»Ich sagte, dass ich froh bin, weil dein Vater froh ist«, schnitt die Mutter ihr das Wort ab. »Weil er nur das Beste in dir sehen will, Evie, und weil ich nicht will, dass er enttäuscht ist. Aber ich kenne die Wahrheit. Ich weiß, dass du etwas verbirgst. Ich habe es schon immer gewusst. Bilde dir also bloß nicht ein, du könntest deiner Mutter etwas vormachen. Glaub bloß nicht, dass ich dich jemals aus den Augen lasse.« Sie warf ihrer Tochter einen scharfen Blick zu, schob dann den Stuhl zurück und stand energisch auf. »Je früher du Lucas heiratest, desto besser.« Sie ging Richtung Tür. »Dann brauche ich mir endlich keine Sorgen mehr zu machen, du könntest Schande über uns bringen, Evie. Wollen wir hoffen, dass er sich ebenso leicht täuschen lässt wie dein Vater … Und dass er dich nicht durchschaut, bevor es zu spät ist.«

Evie sah ihr nach, drehte sich dann langsam wieder zum Spülbecken um. Wie eine Lawine wallte Wut in ihr auf. Wut, Trauer und Enttäuschung und alle anderen Dinge, die sie eigentlich nicht fühlen durfte, denn in der Stadt war jeder gut aufgehoben, und es gab keinen Platz für solche Empfindungen. Wut, Trauer und Enttäuschung brachten Menschen dazu, böse Dinge zu tun – das hatte damals auch zur Schreckenszeit geführt –, und diese Gefühle mussten daher aus den Herzen ferngehalten werden.

Doch Evie konnte das nicht. Und sie wollte es auch nicht. Sie war wütend auf ihre Mutter, auf sich selbst, auf alle und auf alles, was sich verschworen hatte, damit sie sich so hilflos und hoffnungslos fühlte. So ließ sie ihre Wut, ihre Trauer und ihre Enttäuschung tief in ihrem Innern köcheln, wo es nicht entdeckt würde. Sie erledigte den Abwasch und ging zu Bett.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Mitternacht. Ihre Eltern schliefen nun seit fast einer Stunde. Leise schlüpfte Evie aus ihrem Zimmer, den Flur entlang und zur Hintertür hinaus. Es war warm; sie hatte nur ihr Nachthemd an, irgendwelche Schuhe und eine dünne Jacke. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust, während sie weiterging. Wenn jemand sie sah, dann war es vorbei mit ihrem gewohnten Leben. Aber die Sehnsucht war zu heftig, das Verlangen zu groß. Behutsam hob sie den Riegel am Gartentor an und rannte den Durchgang entlang bis zu der kleinen Lichtung. Aufgeregt tastete sie sich auf den gewaltigen ausgehöhlten Baum mitten auf der Wiese zu, den sie schon seit Kindertagen kannte. Sie schob sich hinein, was nun mit fast eins fünfundsechzig gar nicht mehr so einfach war. Sie sah eine Kerze flackern und eine große Gestalt kauerte darüber. Evies Augen strahlten.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen«, flüsterte Raffy, die Augen voller Verlangen. Er zog sich hoch und schloss sie in die Arme.

»Jetzt bin ich ja da«, flüsterte Evie, und ihre Lippen fanden sich, sie schlang die Arme um seinen Hals und genoss das vertraute Gefühl, irgendwo hinzugehören. Eine leichte Brise strich über ihre Stirn, als sie Raffy küsste, blies ihr das Haar aus dem Gesicht, und mit einem Mal kam sie sich irgendwie wild vor und zügellos, wie die Zigeuner in den Geschichten ihrer Mutter.

Es würde nicht gut gehen, das wusste sie. Das System würde dahinterkommen, was sie taten; sie wusste nicht, wie, aber es gab keinen Zweifeclass="underline" Irgendwann kam alles heraus. Und wenn das System die Wahrheit erfuhr, würde es sie beide bestrafen für das, was sie taten. Sie würden Schande über ihre Familien und über die Stadt bringen. Sie würden Ds werden, oder noch schlimmer: auch ihre Eltern, weil sie in ihrer Fürsorgepflicht versagt hatten. Ihre Verlobung mit Lucas würde augenblicklich gelöst. Sie würde ihre Stelle bei der Behörde verlieren. Sie wäre eine Ausgestoßene, sie müsste mit ihren Händen arbeiten, Latrinen putzen wahrscheinlich; die anderen würden mit dem Finger auf sie zeigen und sie auf der Straße anspucken. Sie wusste das alles; das war es, was sie nachts quälte und sie wach hielt. Weswegen sie sich hasste und keine Freundschaften schloss oder irgendjemandem vertraute. Weil sie wusste, dass ihr Herz nicht so war wie bei den anderen, dass sie nicht gut war. Aber jetzt im Augenblick nahm sie dieses Schicksal an. Das System würde alles herausfinden und dann war selbst ein D noch zu gut für sie. Sie wäre eine Kandidatin für eine zweite Neutaufe; an der Schande würde sie ein Leben lang tragen.

Aber jetzt und hier, in dem dunklen Versteck, während alle schliefen, schob Evie ihre Ängste beiseite. Das System wusste nichts von ihnen. Noch nicht. Vielleicht konnte es im Dunkeln nicht sehen. Und selbst wenn, dann war ihr das in diesem Augenblick egal. Sie fühlte sich frei, glücklich – so war das Leben lebenswert. Und außerdem kam es ihr so vor, als sei es bei den Zigeunern in den Gutenachtgeschichten ihrer Mutter immer ziemlich lustig zugegangen, bevor sie von den Wölfen in Stücke gerissen wurden.

3

Vor der Neutaufe brauchte man sich nicht zu fürchten. Denn darin unterschied sich die Stadt von allen anderen Gesellschaftsformen: Sie war ein friedlicher, ein guter Ort. Die Neutaufe war die großartige Idee des Großen Anführers gewesen, damals vor der Schreckenszeit, vor der Gründung der Stadt, als die Welt eine andere war und der Große Anführer ein Hirnspezialist, ein Arzt, ein Heiler gewesen war.

Nur hatte er nicht so heilen können, wie er es wollte. Er hatte eine Hirnregion namens Amygdala oder Mandelkern entdeckt, die bei Geisteskranken und Kriminellen krankhaft vergrößert war. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dieses Organ die Wurzel allen Übels war, der grundlegende Schwachpunkt bei allen menschlichen Wesen. Nicht bei jedem war die Amygdala gefährlich, aber sie musste genau beobachtet werden, da sie jederzeit wachsen und die Herrschaft übernehmen konnte, sodass aus einem guten Menschen ein böser Mensch wurde. Jemand mit einer vergrößerten Amygdala kümmerte sich nicht mehr um andere Menschen, sondern wollte sie töten und verletzen, wollte stehlen und kämpfen. Alle Kriege wurden von Menschen mit einem großen Mandelkern angefangen; so jemand brachte die Leute dazu, einander zu hassen, und fügte anderen Schmerz zu. Genau diese Menschen hatten auch die Schreckenszeit entfesselt und stachelten andere auf, damit auch sie kämpften, Bomben warfen und alles zerstörten. Denn auch gute Menschen konnten schwach sein. Unter bestimmten Umständen war jeder in Gefahr.