Выбрать главу

»Und dann werden alle wissen, wie böse du bist«, sagte der Bruder ausdruckslos. »Und sie werden wissen, dass alles gelogen war, was du gesagt hast.«

Sie trat noch näher an ihn heran, und ihre Hände begannen, ganz leicht zu zittern.

»Nein«, sagte sie. »Du bist der Böse. Du hast das Leben von so vielen Menschen zerstört, du hast so vielen das Leben genommen. Dir muss man das Handwerk legen. Und genau das werde ich tun.«

Der Bruder starrte sie an, und als sie noch näher kam, verlor das runde Gesicht seine Härte und den überheblichen Ausdruck. Er zitterte jetzt. »Nein«, schluchzte er. »Nein, Evie, töte mich nicht. Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid?«, erwiderte sie eisig. »Das reicht nicht. Das reicht bei Weitem nicht.«

»Bitte«, flehte er. »Bitte tu es nicht. Reden wir darüber. Ich kann deinen Rang ändern. Und den von Raffy. Ich kann alles besser machen. Ich kann …«

»Es gibt keine Ränge mehr«, sagte Evie. »Wir haben sie abgeschafft. Die Stadt braucht dich nicht mehr. Sie will dich nicht mehr.«

»Neeeeiiiiin!«, schrie der Bruder, ein kehliger Laut, der tief aus seinem runden Bauch zu kommen schien. »Tut doch etwas!« Panisch sah er zu den Polizeigardisten hinüber. »Zieht eure Pistolen«, gellte er. »Tötet sie. Tötet sie alle!«

Ein Gemurmel ging durch die Menge. »In der Stadt gibt es keine Pistolen. Waffen sind böse. Waffen stehen für Gewalt und Unterdrückung …«

»Waffen sind nur böse in der Hand von Bösen«, keuchte der Bruder und schrie die Polizeigardisten erneut an: »Steht nicht da wie die Ölgötzen! Raus mit den Waffen!« Seine Stimme überschlug sich. »Ganz egal, ob jemand sie sieht. Ihr müsst diese Leute erschießen, sonst werden sie mich töten.«

Doch niemand rührte sich. Niemand, außer Linus, der nun nach vorn trat. »Alles, was du diesen Menschen erzählt hast, sind Lügen, nicht wahr, Bruder? Es gibt Regeln für dich und Regeln für sie. Keiner darf hier in Wohlstand leben, aber du lebst in Saus und Braus. Schusswaffen sind böse, aber heimlich stattest du deine Polizeigarde mit Pistolen aus. Die Stadt ist ein sicherer Ort, aber gleichzeitig werden die Bürger von dir und deinem korrupten System ständig bedroht. Die Bösen sind gewalttätige Kriminelle, doch in Wirklichkeit sind es Unschuldige, denen du Gewalt angetan hast, denen dieser Ort Gewalt angetan hat. Du hast den Tod verdient. Die Stadt hat etwas Besseres verdient. Aber nicht durch Evies Hand.« Er berührte sie sanft an der Schulter. »Evie, du hast noch dein ganzes Leben vor dir, und wenn du jemanden tötest, dann wird es dich immer verfolgen – auch wenn es nur ein niederträchtiger, unwürdiger Mensch ist wie der Bruder.«

»Ich muss ihn töten«, sagte Evie und ließ den Bruder nicht aus den Augen. »Das bin ich meinen Eltern schuldig.« Sie warf einen Blick auf die Menge. »Meinen richtigen Eltern.«

»Lass es mich tun«, sagte Linus. »Gib mir die Waffe. Lass es mich tun.«

Evie schüttelte den Kopf.

Lucas beobachtete sie, beobachtete Linus, beobachtete den Bruder, der die Hand ausgestreckt hielt.

Evie stand vor dem Bruder, ihre Hände zitterten und sie führte den Finger an den Abzug. Dann knallte plötzlich ein Schuss. Menschen schrien und die Polizeigarde stürmte heran. Evie stand da, regungslos und mit offenem Mund, die Waffe immer noch in der Hand.

»Aber …«, stammelte sie. »Aber ich habe doch gar nicht … Ich habe doch gar nicht …« Raffy lief zu ihr, zog sie an sich, und die Pistole glitt aus ihrer Hand. Linus hob sie auf.

»Ich habe doch gar nicht …«, sagte sie noch einmal.

»Ich weiß«, antwortete Linus, und beide blickten nach hinten, dahin, wo Lucas stand, mit einer Waffe, die er einem Polizeigardisten aus der Hand gerissen hatte. Jetzt richtete er sie auf die Gardisten, dann auf die Menschenmenge. Der Bruder lag stöhnend am Boden und Lucas blickte voller Abscheu auf ihn hinunter.

»Bloß ein Schuss ins Bein. Du wirst es überleben«, höhnte er.

»Du hättest es mich tun lassen sollen«, meinte Evie bitter. »Ich hätte ihn töten sollen.«

»Nein«, widersprach Lucas, der nun gemeinsam mit Linus die Polizeigarde und die Menge in Schach hielt. »Ich konnte nicht zulassen, dass du dein Leben wegwirfst«, erklärte er. »Sei nicht verbittert, Evie. Versteck deine Gefühle nicht und versteck dich nicht hinter einer Maske. Lass es sein, Evie. Der andere Weg ist zu schmerzhaft. Er raubt dir dein Leben.« Und mit einem Blick auf Linus sagte er: »Geht jetzt. Ich halte die Wachen auf, bis ihr draußen seid.«

Linus schüttelte den Kopf. »Es macht mir Spaß hier.« Die Fältchen spielten wieder um seine Augen. »Geh du. Nimm die anderen mit. Angel wartet draußen auf euch und bringt euch sicher nach Base Camp zurück. Ich komme nach. Macht, dass ihr wegkommt, und lauft, was ihr könnt.«

»Linus!« Martha rannte zu ihm hin. »Was redest du da? Du musst mit uns kommen. Wir brauchen dich.« Sie wollte ihn mit sich ziehen, aber er schob sie behutsam weg.

»Jemand muss hierbleiben«, sagte er ruhig. »Ich halte sie hier auf, bis ihr weg seid.«

»Aber was ist mit dir?«, fragte Martha mit Tränen in den Augen. »Wie willst du von hier entkommen?«

»Ich lasse mir etwas einfallen«, sagte er mit einem Lächeln. »Geht. Geht jetzt und fangt ein neues Leben an. Das System, das euer Leben zerstört hat, existiert nicht mehr. Der Schleier ist gelüftet. Was wir getan haben, war den Einsatz wert. Und macht euch keine Sorgen um mich.«

»Ich bleibe bei dir«, sagte Martha trotzig, und ihre Lippen bebten. Linus schüttelte den Kopf. »Lucas, nimm sie mit. Pass auf sie auf. Kümmere dich um alle. Ich verlasse mich auf dich.«

Lucas nickte. »Es war schön … dich beinahe kennenzulernen.«

Linus grinste. »Ganz meinerseits.« Er fuhr herum und zielte mit der Pistole wieder auf den Bruder. »Wenn ihr auch nur einen Schritt näher kommt, stirbt der Bruder«, rief er und zwinkerte seinen Freunden zu. »Und wenn einer von euch meinen Freunden folgt, stirbt der Bruder. Wenn sich einer rührt, stirbt der Bruder. Verstanden?«

»Also los. Gehen wir«, sagte Lucas mit einem Blick auf Martha, die widerstrebend nickte. Er wandte sich zu den anderen hin. »Raffy? Evie?«

Auch Raffy nickte und nahm Evie an der Hand. Dann liefen sie los, auf dem gleichen Weg wie bei ihrer ersten Flucht, im Schatten der Häuser und über verborgene Pfade, immer Richtung Osten. Niemand sagte ein Wort, niemand wollte über das sprechen, was geschehen war, was die Zukunft bringen mochte, was sie erreicht hatten und was nicht. Sie liefen einfach immer weiter, vorbei an der verfallenen Hütte und durch den Sumpfgürtel.

Dann gelangten sie an das Tor, doch als Lucas sich dagegenstemmte, gab es nicht nach. »Angel«, rief Martha. »Angel?«

»Er kann dich nicht hören«, sagte Raffy verbittert. »Drei Meter – schon vergessen?« Er rannte selbst gegen das Tor, riss an den Riegeln. Doch das Tor ging nicht auf. Dann waren in der Ferne Schüsse zu hören und sie sahen sich an.

»Wir müssen darüberklettern«, sagte Lucas.

»Darüber?« Raffy sah ihn ungläubig an. »Wie denn?«

»So.« Lucas kletterte am Tor hinauf und hielt sich oben an den Zacken fest. Dann schwang er die Beine hinauf und drehte sich so, dass er sich mit den Beinen quer zwischen den scharfen Metallzacken einhaken konnte. »Jetzt kletterst du an mir hoch auf die andere Seite und hakst dich dort genauso ein wie ich hier. Dann können die anderen an mir hochklettern und an dir wieder runter.«

Raffy zögerte.