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»Oder wir können hier warten, bis die Polizeigarde kommt«, sagte Lucas leise.

»Also gut«, meinte Raffy. Er hangelte sich hinauf, verlor ein paarmal fast den Halt, doch schließlich schaffte er es bis nach oben. Evie begann zu zittern. Es sah tückisch aus, um die fünf Meter hoch, mit spitzen Zacken oben. Sie würden nie lebend hinüberkommen. Wenn Raffy abrutschte, wenn er den Halt verlor …

»Pass auf den Stacheldraht auf beim Hinunterklettern«, warnte Lucas und gab seinem Bruder einen kleinen Bolzenschneider. Der nahm ihn und zog die Brauen hoch.

»An alles gedacht, was?«

»Das hab ich gelernt«, sagte Lucas leichthin. »Dad hat es mir beigebracht. Und ich wünschte, ich könnte es dir auch beibringen.« Die beiden sahen sich einen Augenblick an, und Evie entdeckte etwas in Raffys Gesicht, doch es ging so schnell vorbei, dass sie nicht sicher sein konnte, was es war, aber da kletterte Raffy auch schon weiter. Evie sah ihm zu, und ihr war, als würde ihr das Herz stehen bleiben, als Raffy auf der anderen Seite verschwand.

»Alles in Ordnung mit dir?«, rief sie, und ein gedämpfter Ruf von drüben gab ihr immerhin die Gewissheit, dass er noch lebte.

»Jetzt du?«, fragte Lucas.

Evie schüttelte den Kopf. »Nein. Martha.«

Martha nickte widerstrebend und kletterte los. Sie war sportlicher, als Evie gedacht hatte, stieg geschickt an Riegeln und Bolzen hoch bis zu der Stelle, wo Lucas sich eingehakt hatte. Er hob sie über die Zacken bis dorthin, wo Raffy den Stacheldraht durchgeschnitten hatte, und hielt sie an den Füßen fest, bis sie ganz oben war. Evie konnte nicht hinsehen. Es war gar nicht daran zu denken, dass sie selbst hinüberklettern konnte. Sie würde scheitern. Sie würde abstürzen. Sie würde alles zunichtemachen.

Martha hatte es geschafft, und Lucas sah zu Evie herunter. »Bist du so weit?« In seinen Augen lag mit einem Mal so viel Güte, dass Evie neue Kraft spürte, so als könnte sie alles schaffen. Sie wischte sich die Hände an ihrer Kleidung ab und kletterte los, sie sah nicht nach unten, sie dachte nicht daran, was passieren würde, wenn sie abrutschte. Lucas streckte ihr die Hand hin und sie ergriff sie. Er zog sie hinauf, und sie stützte sich auf ihn, so nah, dass sie seinen Atem auf der Wange spürte.

»Gib das Raffy«, sagte er und nahm die Uhr vom Handgelenk, die goldene Uhr, auf die er so stolz gewesen war.

»Warum?« Sie blickt voller Zweifel darauf. »Warum sollte Raffy die Uhr haben wollen, die du vom Bruder bekommen hast?«

Lucas lächelte traurig. »Sie hat unserem Vater gehört. Dass sie vom Bruder ist, habe ich Raffy nur erzählt, weil …« Er seufzte. »Na ja, ich habe Raffy eine Menge Sachen erzählt. Dad wollte, dass Raffy sie bekommt, aber das war zu gefährlich. Deshalb habe für ihn darauf aufgepasst. Aber jetzt soll er sie endlich bekommen. Ich will, dass er Dad so in Erinnerung behält, wie er es verdient. Und ich will, dass er weiß, wie sehr ihn Dad geliebt hat. Wie sehr ich …« Seine Stimme brach und seine Augen schimmerten feucht.

»Du kannst sie ihm selbst geben«, meinte Evie, »wenn wir drüben sind.«

Lucas schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit«, flüsterte er.

Evie starrte ihn an und ihr war, als würde ihr kalt bis ins Mark. »Wie meinst du das?«

»Ich muss hierbleiben. Linus rausholen. Die Leute werden ratlos sein. Verwirrt. Sie brauchen eine Richtung. Sie brauchen Hoffnung.«

Evie schüttelte heftig den Kopf. »Du musst mitkommen. Du musst …« Tränen brannten ihr in den Augen. Wut, Verzweiflung und Empörung stiegen in ihr hoch. Sie wollte Lucas nicht noch einmal verlieren.

»Du musst mitkommen«, flehte sie noch einmal und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und über die Nase.

»Ich kann nicht«, sagte er sanft. »Das weißt du doch. Du musst mit Raffy gehen. Geht zurück nach Base Camp. Sucht euch eine neue Gemeinschaft. Baut euch ein gemeinsames Leben auf.«

»Und wenn die Polizeigarde dich tötet? Was dann?«, fragte Evie.

Lucas lachte. »Ich werde nicht zurück zum Versammlungshaus marschieren, falls du das meinst.« Er wurde wieder ernst. »Evie, es geht mir nur darum: dass du und Raffy und Linus hierhergekommen seid, um hier … dass es funktioniert hat. Und das will ich sicherstellen. Meinem Vater zuliebe. Und Linus zuliebe.«

Evie schloss die Augen. Sie wusste, dass er sich nicht mehr umstimmen lassen würde, wusste, dass sie ihn verloren hatte. Und sie wusste, dass er recht hatte, doch es fühlte sich furchtbar falsch an.

»Du … du wirst mir fehlen«, flüsterte sie, ohne darüber nachzudenken, was sie da sagte.

»Evie?« Das war Raffys Stimme.

»Sie kommt«, rief Lucas. Dann legte er seine rechte Hand an ihre Wange, zog sie an sich und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Ich wollte mit dir verlobt sein, weil du wunderschön bist«, flüsterte er. »Weil du verständnisvoll, intelligent und unabhängig bist. Und weil ich mich auf den ersten Blick in dich verliebt habe. Aber ich wusste immer, dass du nie mein sein würdest. Pass auf dich auf, Evie. Und gib auf Raffy acht, für mich.«

»Danke«, sagte Evie. »Danke, dass du auf den Bruder geschossen hast. Danke für … für alles.«

»Du wirst mir auch fehlen«, erwiderte Lucas sanft und so voller Gefühl, dass seine Lippen bebten.

Und damit stemmte er sie hoch, bis sie die obersten Zacken fassen konnte, und hielt sie fest, bis sie sich ganz hinaufgezogen hatte. Als sie sich hinüberschwang, verlor sie für einen Augenblick den Halt, rutschte ab und dachte, dass nun alles vorbei war, und eine Sekunde lang war es ihr egal … Aber da schlangen sich zwei starke Arme um sie, hielten sie fest, und sie war bei Raffy, er presste sie an sich, und sie konnte ihn riechen, konnte ihn spüren – den Jungen, den sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte und der sie liebte, und sie sahen sich an, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, und sie kamen gemeinsam sicher unten an.

»Und Lucas?«, fragte Angel sofort. »Wo ist er?«

»Er geht wieder zurück«, sagte Evie. »Er bleibt noch eine Weile dort.«

Und falls Raffy protestieren und fragen wollte, warum, oder wissen wollte, was Lucas ihr sonst noch anvertraut hatte, dann tat er es jedenfalls nicht.

»Weiß er, was er da tut?«, fragte Angel stirnrunzelnd.

»Ich denke schon«, sagte Evie. Sie wandte sich zu Raffy hin, wollte ihm Lucas’ Uhr geben, doch dann überlegte sie es sich anders. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Und sie war noch nicht so weit. Stattdessen behielt sie, während sie losrannten, die Uhr in der Hand, umschloss sie ganz fest mit den Fingern, so als wäre es Lucas selbst, den sie festhielt. So als würde sie ihn beschützen. So als hätte er irgendwie etwas von sich zurückgelassen in diesem goldenen Zeitmesser, der ihm so viel bedeutet hatte – und der, wie Lucas selbst und wie die Stadt, die er scheinbar geliebt hatte, etwas ganz anderes war, als sie gedacht hatte.

Als sie alle gedacht hatten.

Nachwort

Augen und Nase verklebt von Dreck und Staub. Sie ringt nach Atem. Eine Hand schließt sich um die ihre, zieht sie weiter, beruhigt sie. Aus Versehen bleibt sie an einem Stein hängen und fällt hin. Sie knallt mit dem Gesicht auf den Boden. Sie hebt den Kopf und fährt sich über die Stirn – an ihrem Handrücken ist Blut. Ihre Lippen beben, aber noch bevor die Tränen kommen, wird sie hochgehoben. Ihre Arme legen sich um einen vertrauten Nacken und sie hört ihn lachen.

»Pass auf, wo du hintrittst, du Dummerchen«, sagt er und grinst. »Da, nimm meine Hand.«

Sie nimmt sie, dankbar, und es geht weiter.

Sein rhythmisch schwingender Gang beruhigt sie. Sie fühlt sich geborgen. »Wir sind bald da«, murmelt er und drückt ihre Hand. »Wir sind bald da, mein Liebling.«

Sie geht neben ihm, geht in ein neues Leben. Bald werden sie an einem anderen Ort sein, an einem neuen Ort, an einem besseren Ort. Ausgelassen packt Raffy sie, lächelnd reckt sie sich ihm entgegen, umarmt ihn. »Ich liebe dich«, murmelt er. »Ich liebe dich …«

Ende des ersten Bandes