»Ich auch«, flüsterte Christine und machte sich wieder an die Arbeit. Auch Evie beugte den Kopf tief über die Akten, genau wie die Kolleginnen, die mit ihren auf den Tastaturen klappernden Fingern Ränge änderten und den Vorschriften Genüge taten.
Eine Stunde verging und noch eine. Und dann kam plötzlich alles zum Stillstand. Die Bildschirme wurden dunkel, die Computer gingen aus. Evie dachte zuerst, sie habe etwas falsch gemacht, und drückte verwirrt auf die Tasten, um den Computer wieder zum Leben zu erwecken. Dann bemerkte sie, dass es Christine ebenso ging, und alle sahen einander an – verwundert, unsicher, aufgeregt und ahnungsvoll. Christine hob die Hand und meldete der Aufseherin, was geschehen war. Die kam argwöhnisch heran, starrte ungläubig auf die Bildschirme und befahl, alle sollten ihren Computer neu starten – als sei dies ein Jux, den die Mädchen sich erlaubt hatten.
Dann erschien ein Unterabteilungsleiter in der Tür. Die Aufseherin ging zu ihm, hörte sich kurz an, was er zu sagen hatte, und kam mit ernstem Gesicht zurück.
»Also, alle mal herhören. Das ist eine Übung«, verkündete sie. »Eine Sicherheitsübung. Verlassen Sie bitte ruhig und geordnet das Gebäude und sammeln Sie sich im rückwärtigen Hof. Bleiben Sie zusammen und warten Sie auf neue Anweisungen.«
Schweigend machten sich alle auf den Weg. Keiner in der Stadt widersetzte sich einem Befehl. Trotzdem hatten sich durch Geflüster und Blicke schon verschiedene Gerüchte verbreitet, bevor die Gruppe den Hinterhof erreicht hatte. Irgendetwas war nicht in Ordnung mit dem System. Es hatte eine Panne gegeben. Und anscheinend hatte Raffy es entdeckt.
Natürlich nannte niemand ihn Raffy – für alle außer für Evie war er Raphael –, und wer seinen Namen aussprach, tat das mit einem wissenden Blick und einer kleinen Pause vor und nach dem Namen. »Raphael« – als wäre das allein schon die Erklärung für den Vorfall.
Lucas war der Einzige, bei dem Evie jemals die Kurzform Raffy gehört hatte. Für sie hingegen war es sein richtiger Name, der einzige, den sie je benutzt hatte. Und immer musste sie dabei an die Zigeuner aus den Gutenachtgeschichten ihrer Mutter denken, Jungen und Mädchen, die wild und ungebunden lebten, in Häusern auf Rädern durch die Welt zogen und nirgends lange blieben. Vielleicht lag es auch gar nicht an seinem Namen, vielleicht lag es an ihm selbst. Raffy trug die Haare immer lang – zumindest so lang, wie die Bestimmungen es erlaubten – und nicht um die Ohren kurz geschnitten wie alle anderen, und sein Blick war immer voller Fragen, genauso wie es bei Evie wäre, wenn sie es zulassen würde.
Ihre Mutter hatte recht gehabt: Er hatte, abgesehen von seinem Bruder, offenbar niemals Freunde gehabt. Nie sah Evie ihn in Gesellschaft. Immer war er allein, beobachtete, brütete vor sich hin, während die anderen Jungen ihm mit Argwohn begegneten. Evie wunderte sich nicht. Etwas an ihm brachte einen unwillkürlich dazu, dass man vor ihm auf der Hut war. Mit seinen straffen, geschmeidigen Muskeln wirkte er immer sprungbereit, und manchmal fragte Evie sich, wofür er sich wappnete. Wie mochte es sich wohl anfühlen, wenn man mit ihm zusammen rannte, draußen im Freien, wenn einem der Wind durchs Haar fuhr?
Aber das würde sie nie erleben. Und überhaupt nahm es mit den Mädchen und Jungen in den Geschichten ihrer Mutter nie ein gutes Ende. Meistens endeten sie bettelarm und allein.
Evie und ihre Abteilung versammelten sich im Hof und stellten sich ordentlich in einer Reihe neben den anderen Abteilungen auf. Beklommen blickte sie sich um. Die Luft knisterte förmlich vor Aufregung und Erwartung. Oder war es Angst? Noch nie hatten die Regierungsgebäude geräumt werden müssen, außer während der sorgfältig geplanten Brandschutzübung, die einmal im Jahr stattfand. Jeder gab sich ruhig und umsichtig, doch die Augen huschten neugierig umher, Blicke wurden gewechselt, Augenbrauen wurden hochgezogen und kaum vernehmliches Geflüster sprang von Reihe zu Reihe. Eine Panne. Eine Panne im System. War eine Panne ein Fehler? Was bedeutete das? Was würde geschehen?
Evie fühlte die Spannung in der Luft und tauschte Blicke, genau wie alle anderen, doch bei ihr waren die Spannung, die Erwartung und die Erregung viel größer. Immer wenn sie Schritte hinter sich hörte, sträubten sich ihre Haare im Nacken. Und wenn klar war, dass es nicht Raffy sein konnte, weil die Schritte sich entfernten oder stehen blieben, dann traf die Enttäuschung sie wie ein kleiner Stich, für den sie sich sofort tadelte. Hatte er wirklich die Panne entdeckt? Machte ihn das zum Helden? Oder würde er wieder für etwas verantwortlich gemacht, das nicht seine Schuld war? Kam man einfach nur auf ihn, nun … weil er eben Raffy war? Aus demselben Grund, warum ihre Eltern ihr jeglichen Umgang mit ihm verboten, ja selbst ein »Hallo« bei der wöchentlichen Versammlung nicht duldeten. Der Grund, warum er keine Freunde hatte, warum der Lehrer ihn in der Vorschule immer besonders hart bestraft hatte.
Weil er so war »wie sein Vater«.
Ihre Aufseherin erschien und das Flüstern verstummte. »Es gibt kein Problem. Keine Panne. Glauben Sie nicht, was die Leute sagen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme und sah jedem Einzelnen in die Augen. »Es ist nur ein routinemäßiger Neustart des Systems. Warten Sie einfach draußen, bis man Ihnen sagt, dass Sie wieder hineindürfen. Alles ist so, wie es sein soll. Alles ist bestens.« Evie nickte, genau wie Christine und die anderen. Sie wusste, dass alle dasselbe dachten: Das war keine routinemäßige Angelegenheit, denn sonst wäre es ja schon einmal vorgekommen.
Dann kam jemand mit dem Unterabteilungsleiter heraus auf den Hof, und daran, wie die Aufseherin scharf die Luft einzog, war unschwer zu erkennen, wer der andere sein musste – Raffy.
Hunderte Augenpaare folgten Raffy auf dem Weg zu seiner Abteilung. Der Unterabteilungsleiter ging hinter ihm. Evie spürte ein Kribbeln im Magen. Ihr Blick schoss bald hierhin, bald dorthin, und am liebsten hätte sie laut gerufen: »Hier bin ich, hier drüben!«, aber das durfte sie nicht, und wenn jemand sah, dass er in ihre Richtung blickte, dann war das gefährlich.
Christine starrte Evie an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Raphael!«, sagte ihr Blick. »Hab ich’s dir nicht gesagt?«
Der Unterabteilungsleiter rief die Aufseher zu sich. Die drängten sich in eine Ecke und sprachen leise, sodass auch die Übrigen wieder Gelegenheit hatten, miteinander zu flüstern.
»Dieser Irre!«, zischte Christine sofort. »Wetten, dass er die Panne ausgelöst hat? Er sollte nicht hier arbeiten dürfen. Ich kann ehrlich gesagt kaum glauben, dass ausgerechnet er ein B sein soll. Aber nicht mehr lange. Systempanne? Der führt doch was im Schilde!«
»Er ist kein Irrer«, erwiderte Evie, noch bevor sie es verhindern konnte. »Du weißt gar nichts.«
Christine starrte sie entgeistert an. Sie war es nicht gewöhnt, dass man ihr widersprach. Nicht in einer Sache, über die alle sich einig waren. »Evie«, flüsterte sie. »Nimm ihn nicht in Schutz, bloß weil du seinen Bruder heiratest. Das brauchst du nicht. Lucas weiß doch auch, dass Raphael ein Irrer ist. Genau deshalb lässt er ihn nicht aus den Augen. Mein Bruder ist mit Raphael in die Schule gegangen und sagt auch, dass er unheimlich ist. Dauernd stellt er so seltsame Fragen. Und er hat seltsame Augen. Wenn du mich fragst, dann wird er genauso enden wie sein Vater. Und das geschieht ihm auch recht, wenn du mich fragst. Man sieht ihm das Böse richtig an. Er ist ein K, Evie. Ein K mit Ansage.« Sie schüttelte traurig den Kopf und seufzte tief.
Evies Magen krampfte sich zusammen vor Wut und vor Angst. Man redete nicht einfach so über den K-Rang. Niemals. Außerdem hatte Christine unrecht: Raffys Augen waren nicht seltsam, seine Augen waren faszinierend, ausdrucksvoll und nachdenklich. Augen voller Leidenschaft, voller Fragen, voller Sehnsucht.
»Okay, das System ist wieder hochgefahren«, rief jemand vom Hintereingang des Gebäudes her, einer der Abteilungsleiter. »Gehen Sie bitte zügig und in einer Reihe zurück ins Gebäude, wenn Ihre Abteilung aufgerufen wird. Abteilung Eins zuerst, bitte. Wie gesagt, das war eine Routinesache. Aber Sie werden außerhalb dieser Wände kein Wort darüber sagen. Das System wird Sie beobachten. Danke.«