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Jossip Petaki, der Schäfer, kam nicht mehr ins Tal zurück. Er verkroch sich in seiner Hütte inmitten der Felsen und beobachtete aus der Ferne das ameisenhafte Treiben außerhalb Zabaris an dem kleinen Talkessel. Dann flog ein finsteres Grinsen über seine Züge, und er schaute empor zu dem über Zabari hängenden Felsen, zu dem schützenden Hang, unter dem sich das Dorf vor den Unbilden der Natur geduckt hatte. Ein Schein von Zufriedenheit überflog jedesmal sein Gesicht, wenn er an die Quelle herantrat, die aus dem Felsen kam, und in ledernen Eimern Wasser in seine Holzhütte trug.

Er hatte Zeit, ja, die Zeit arbeitete für ihn. Was wußten die kleinen Menschen dort unten, wie mächtig die schwarzen Berge waren! Sie wühlten die Erde auf, sie rodeten die Wälder, sie gruben Felsen aus, sie sprengten das Gestein und gossen zwischen Eisen und Holz dicke Mauern vor das Tal. Sie wollten die Natur bezwingen, sie woll-ten Gottes Schöpfung korrigieren. Jossip lachte darüber und stand über Zabari in den Felsen, ein einzelner Mensch, der daran glaubte, daß die Neuzeit nicht stärker war als das Gesetz der Berge.

Ralf Meerholdt blieb erstaunt vor dem langen Schanktisch Bo-nellis stehen, als er Rosa mit anderen Mädchen Gläser spülen sah. Er winkte Bonelli herbei und zeigte auf sie.

»Was soll das?«

»Meine Mädchen!« antwortete Bonelli stolz. Sein rechtes Auge war gelb geworden, und jeder im Lager wartete darauf, wann das linke wieder blau erglänzte.

»Was soll denn Rosa dort?«

»Rosa? Die Schwarze? Die kam vor drei Tagen zu mir und wollte Sie sprechen. >Kind<, habe ich zu ihr gesagt. >Der Herr Ingenieur hat keine Zeit! Von morgens bis abends und in der Nacht arbeitet er. Was willst du von ihm?< - >Nichts<, sagte das Mädchen. Und plötzlich besann sie sich und meinte: >Haben Sie keine Arbeit für mich?<« Bonelli hob die Schultern. »Arbeit habe ich immer . und nun ist sie hier.«

Meerholdt nickte. »Es ist gut, Bonelli.« Er ließ den Kantinenwirt stehen und trat an den Tisch heran. Über die Gläser hinweg faßte er Rosas Hand und hielt sie fest, als sie ein Glas ins Wasser tauchen wollte.

Sie sah ruckartig auf. Ihr Blick war traurig.

»Sie kennen mich noch?« Ihre Lippen zitterten.

»Sei nicht dumm, Rosa.« Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zur Seite. »Wenn die Vorarbeiten fertig sind, habe ich mehr Zeit.«

»Ich glaube es nicht.«

»Aber Rosa!« Er versuchte, sie heranzuziehen, aber sie entriß ihm den Arm und trat zurück an die Hinterwand. »Du liebst mich nicht mehr!« In ihre Augen trat jene Dunkelheit, die Ralf schon erschreckte, als er sie zum erstenmal küßte. »Du bist anders als damals. Und ich habe mich so gefreut auf dich.«

»Die Arbeit, Rosa ... der Damm! Er ist wichtiger als wir.«

»Es gibt für mich nichts Wichtigeres als dich.«

Natürlich, dachte er. Was weiß sie von dem, was hier entsteht? Sie ist ein Kind der Natur, sie kennt nur Liebe und Haß, Leben und Vergehen, Geben und Nehmen. Alles in ihr ist einfach, so klar, so unabwendbar wie der Lauf der Sonne und die Schatten des Mondes, wie der Einbruch des Winters und die Trockenheit des Sommers.

Er beugte sich vor und nahm wieder ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht, aber sie rührte sich auch nicht von der Wand.

»Du hast recht, Rosa«, sagte er versöhnlich. »Wir wollen heute abend Spazierengehen. In den Wald oder dorthin, wo du am liebsten sitzt.«

»Wo ich immer an dich gedacht habe.«, sagte sie leise. In ihre Augen trat ein glücklicher Schimmer. »Ich warte auf dich. Wenn der Mond über der Spitze des Waldes steht, bin ich hinter dem Haus im Garten.«

Er drückte ihre Hand und ging.

Wenn der Mond über der Spitze des Waldes steht, dachte er. So etwas gibt es noch auf unserer nüchternen Welt! Keine Uhrzeit, kein Hasten, kein Sklave des schleichenden Zeigers auf einem phosphoreszierenden Zifferblatt. Der Mond ist es, der die Zeit sagt, der Mond über der Spitze des Waldes.

Er ging hinüber zu den Baustellen. Zwei Italiener schrien auf einen Bauern ein, der mit einem Ochsenkarren vom Feld kam und mit der Deichsel eine Tonne mit Kalk umgestoßen hatte. Auf der Sohle des Tales wuchs das Gerüst für den Betonguß empor. Mächtige Bretterwände, durchzogen mit Eisenträgern und riesigen Stahlgeflechten, schoben sich empor. Die Planierraupen zogen die von den Motorsägen gefällten Stämme über den Boden des Tales in eine Seitenschlucht, während an den hohen Kränen die Verschalungen und Träger in die Tiefe pendelten.

Die Schachtmeister und Vorarbeiter, an denen Ralf Meerholdt vorbeikam, meldeten ihm den Fortgang der Arbeit. Auf einem Gerüst, das in halsbrecherischer Art fast frei, nur auf einer Felsnase auflie-gend, über das Tal ragte, stand einer der jungen Techniker und erklärte auf einem großen Bauplan einem Meister die weiteren Teile.

Meerholdt blieb am Rande des Tales stehen und überblickte das Werk. Es waren seine Pläne, seine Gedanken, seine Träume, die hier zu Stahl, Beton und Erde wurden. Er schuf hier eine neue Welt, von der keiner in Zabari ahnte, was sie für das stille, unbekannte Dorf bedeutete. Schon schoben sich die Straßenbaukolonnen meterweise an die Abgeschiedenheit heran . der schmale Weg wurde verbreitert, die Felsen wurden gesprengt, gekappt. Tunnels wurden gebohrt und Brücken - vorerst nur aus Holz - über kleinere Schluchten gelegt. Die Zivilisation fraß sich in die schwarzen Berge hinein, der Fortschritt kannte keine Hindernisse ... ein Märchenreich wurde erobert, ein Dornröschen der Erde gewaltsam aus dem Schlaf gerissen. Es gab nicht mehr den zarten Kuß des Märchens . das Stampfen von Rammern und das Geheul von Dieselmotoren erschütterten die Berge und rissen Wunden in die Erde, damit sie schöner werde, fruchtbarer und schrecklicher.

In Belgrad saß man über den Karten und Plänen und verfolgte den Fortschritt der Arbeiten. Jeden Tag rief Direktor Osik aus Zagreb über die neue, provisorisch gelegte Leitung an. Jeden Tag auch sprach Elena mit Ralf und schickte ihm Küsse durch den Draht. »Ich habe solche Sehnsucht, Sascha«, sagte sie. »Wenn ich dich wiedersehe, erwürge ich dich vor Glück.«

Der Zwiespalt seines Inneren war vollkommen. Er wußte in seinem Hin- und Hergerissensein nur eins: Nie durfte Elena nach Zabari kommen, solange Rosa hier war. Und wenn sie kam, mußte Rosa aus dem Dorfe fort. Er dachte einen Augenblick daran, sie nach Plewlja zu schicken. Dort lagen eine kleine Materialkolonne und ein Ersatzteillager aus Titograd. Rosa konnte dort in einem sauberen Zimmer wohnen, und er hatte manchmal Gelegenheit, sie unter dem Vorwand zu besuchen, die Teile selbst aussuchen zu müssen. Sie würde dann aus der Rauheit der Berge fortkommen, sie würde das Leben außerhalb der Schluchten kennenlernen, jenes Leben, das sie so liebte, ohne zu wissen, wie beschwerlich es war, mit ihm noch ein so herrlicher Mensch zu sein wie Rosa ... ein Mensch ohne Lüge, ohne Intrige, ohne Falsch, ohne Mißgunst und Neid.

Von den Baustellen ging Ralf Meerholdt hinüber zu den Baracken der Arbeiter, zu den Schlossereien, Schmieden, Tischlereien und Autowerkstätten. Der Fahrer des Abschleppwagens saß am Rande eines Baches, der außerhalb der Werkstatt vorbeifloß, und kühlte eine dicke Beule auf dem Kopf.

»Ist dir ein Motor auf den Kopf gefallen?« fragte Meerholdt und lachte. Der Monteur, der an einem Getriebe arbeitete, richtete sich auf.