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Meerholdt stand einer Fülle von Fragen und Rätseln gegenüber. Er sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachts. Von der Baustelle herüber dröhnte Motorenlärm. Durch die Lagergassen tappten Schritte, Stimmen flogen durch die Dunkelheit. Die Verstärkung der Nachtschicht ging ins Tal zum Betonguß.

Nachdenklich nahm Meerholdt den Hörer ab und rief Zagreb an. Er mußte lange warten, bis sich eine verschlafene Stimme meldete. Die Stimme eines Hausmädchens.

»Bei Direktor Osik.«

»Hier Meerholdt in Zabari. Ich muß sofort Herrn Osik sprechen!«

»Um diese Zeit?«

»Es ist dringend.« Es knackte im Apparat, er wartete wieder eine Zeitlang, bis das verschlafene Organ Stanis Osiks an sein Ohr klang.

»Verrückt, Meerholdt! Mitten in der Nacht! Was ist denn los? Ist der Bau zusammengefallen?« Es sollte ein billiger Scherz sein, aber Osik wurde hellwach, als die Stimme aus Zabari sagte:

»Noch nicht! Aber es kann sein.«

»Reden Sie keinen Blödsinn!« Osik richtete sich im Bett auf und knipste das Licht an. Er blinzelte in die grelle Lampe und gähnte. »Die Berechnungen stimmen doch? Die besten Statiker haben sie geprüft!«

»Der Bau wird sabotiert!«

»Was?« Osik zuckte auf, die letzte Müdigkeit fiel von ihm ab. »Das ist doch nicht möglich!«

»Das habe ich auch gedacht.« Meerholdts Stimme war eindringlich. »Noch ist an dem Bau selbst nichts geschehen. Aber heute nacht wollte man mich töten . mit einem schweren Stein.«

Osik riß die Augen auf, Unglauben spiegelte sein dickes, fleischiges Gesicht mit den Tränensäcken unter den kleinen, hellen Augen. »Sie?« fragte er gedehnt. »Aber das ist doch.« Er schluckte. »Mit einem Stein?«

»Er wurde auf mich geworfen. Mein Begleiter, der mich zu Boden riß, weil er den Täter werfen sah, rettete mich.«

»Und man hat ihn nicht erkannt?«

»Nein! Es muß ein Fremder sein! Das ist es, was mich so besorgt macht! Warum hat ein Fremder ein Interesse daran, mich umzubringen? Ich habe keine Feinde in Zabari, und außerhalb des Dorfes überhaupt nicht! Ein persönliches Motiv scheidet also völlig aus! Es kann sich deshalb nur um ein gelenktes Attentat handeln, dem andere, und ich befürchte, folgenschwerere, nachkommen werden.«

Stanis Osik saß in seinem Bett. Er spürte, wie es ihn heiß überlief. Der Staudamm . das ganze Werk . die Millionen Dinare, die es kostet . Sabotage . das konnte er nicht zulassen.

»Ich rufe sofort in Belgrad beim Ministerium an. Ich werde eine Kompanie Soldaten zur Bewachung der Anlagen beantragen! Bilden Sie sofort einen Werkschutz, Meerholdt! Haben Sie Waffen dort?«

»Nur drei Gewehre und einige Revolver.«

»Ich schicke Ihnen morgen Waffen und Munition. Ich werde sofort mit Belgrad sprechen.«

Er hängte ein und sprang aus dem Bett. Sein Gesicht war in den wenigen Minuten fahl geworden. Es ist unmöglich, sagte er sich immer wieder, während er auf die Verbindung mit Belgrad wartete. Es kann gar nicht sein. So wichtig ist dieser Staudamm nicht, daß eine fremde Macht an seiner Zerstörung interessiert ist. Oder war es nur der Anfang einer Kette von Vernichtungen, die sich fortsetzen würde an den anderen, großen Objekten im Süden des Landes und bei Sarajewo?

Das Gespräch mit Belgrad war kurz. Eine Kompanie Gebirgsjäger wurde nach Zabari verlegt. Am Morgen schon flogen sie mit Transportmaschinen nach Foca ab . gegen Mittag würde die Kompanie in Zabari sein.

Befriedigt legte Osik den Hörer auf. Zabari wurde Sperrgebiet, abgeriegelt für alle, die nicht einen Ausweis besaßen. Ein Dorf, der Einsamkeit entrissen und der Einsamkeit zurückgegeben wie Los Alamos in Amerika, das geheimnisvolle Atomdorf nördlich der großen Sandwüste von New Mexico.

Gleich nach dem Weggang Meerholdts war Rosa wieder aus dem Garten geschlichen und stieg den Berg empor zum Wald. Sie brauchte nicht weit zu gehen, als ein Schatten aus den Stämmen trat und ihr entgegenkam. Das fahle Mondlicht hob die Gestalt gegen den schwarzen Wall der Bäume ab.

Rosa blieb stehen und sah der Gestalt entgegen. Kurz vor ihr blieb sie stehen . ein gefällter Baum lag zwischen ihnen wie eine Grenze, die nicht zu überspringen war, wie eine Schlucht oder ein Strom, über den hinweg ihre Stimmen schallten.

»Du warst es also, Jossip?« sagte Rosa.

»Ja.« Er sah sie aus seinen brennenden Augen groß und leidenschaftlich an. »Geh jetzt ins Tal und sag es dem Herrn! Er hat Waffen, ich weiß es ... er wird mich abschießen wie einen Adler.«

»Ich habe dich schon vorhin erkannt, Jossip. Ich sah dich den Stein werfen.« Ihre Stimme war sanft. Verwundert sah Jossip sie an. »Du wolltest ihn töten?«

»Ja!« rief er wild. »Ich werde ihn töten!« Dann schien eine große Frage durch seinen Kopf zu gehen, er beugte sich über den Stamm vor. »Warum hast du mich nicht verraten, Rosa?«

»Ich will nicht, daß Blut zwischen uns ist. Ralf ist stärker als du.«

»Nie!« schrie er grell. »Nie!« Er ballte die Fäuste und hob sie hoch empor. »Damit werde ich ihn vernichten, mit diesen Händen.«

»Ich liebe ihn, Jossip.« Rosas Stimme zitterte. »Wenn du ihn vernichtest, tötest du auch mich. Ich gehöre zu ihm wie das Wasser zu den Felsen und der Wald zum Berg und die Wiese zu den Hängen.« »Du gehörst zu mir!« schrie Jossip. Sein Atem war laut und keuchend. »Du bist mir in der Wiege versprochen worden! Ich verzichte nicht darauf!«

»Es ist doch sinnlos, ein solches Versprechen. Die Welt ist anders geworden, Jossip.«

»Nicht die Welt unserer Berge!«

»Aber der Mensch, Jossip, der Mensch! Versteh es doch! Wie kann ich mit dir kommen, wenn ich dich nicht liebe, nie lieben kann? Es wäre eine Qual, Jossip, für beide. Wir würden unglücklich werden wie ein Lamm, das sich verirrte und sich verzweifelt in eine Schlucht stürzt.«

»Du würdest mich nie fortgeschickt haben, wenn der Fremde nicht ins Dorf gekommen wäre.«

»Aber er ist gekommen, Jossip. Wir dürfen nicht daran denken, was gewesen wäre, sondern nur daran, was ist. Wenn im Frühjahr der Schnee schmilzt, und die Bäche stürzen von den Bergen und reißen alles mit sich fort, den Wald, die Wiesen, die Herden und die Häuser . kannst du sie aufhalten, Jossip? Nein, du flüchtest mit der Herde auf den höchsten Platz und wartest zitternd, bis Gott die Sonne schickt und die wilden Wasser im Tal versickern. Ist der Mensch anders als die Natur, Jossip? Kannst du die Liebe aufhalten, wenn sie wie ein reißender Strom unser Herz zerstört? Du willst gegen Gott kämpfen, Jossip.«

»Gegen Gott und die Welt!« schrie Jossip wild.

»Du wirst daran zugrunde gehen.«

»Und ich werde euch mitreißen«, sagte er dumpf. »Dich und deinen blonden Wolf.«

Rosa wandte sich ab. Die Nutzlosigkeit ihrer Worte zeichneten ihr den Weg vor, den sie zu gehen hatte.

»Leb wohl, Jossip«, sagte sie traurig.

»Jetzt wirst du mich verraten!« Er stellte sich auf den Stamm. Einen Augenblick durchfuhr ihn der Gedanke, sich auf sie zu stürzen, sie zu überwältigen und dann zu töten. »Du wirst mich wie einen Bären hetzen lassen?«

»Nein!« Sie wandte noch einmal den Kopf und sah ihn groß an. In ihre Augen trat ein Schein von Mitlied und Verstehen. »Du tust mir leid, Jossip. Laß uns in Ruhe, und niemand wird erfahren, wer den Stein geworfen hat.«

Sie ging den Hang hinab, mit schnellen, kleinen Schritten. Ihr Haar flatterte im Nachtwind wie eine Fahne, wie eine schwarze Fahne der Trauer. Jossip stand auf dem Stamm und hatte die Fäuste auf den Mund gepreßt. Er mußte schreien, schreien vor Qual und Schmerz, und er drückte diesen Schrei in seinen Mund zurück und sah ihr nach. Jeder Schritt, der sie näher ins Tal brachte, war wie ein Hieb des Schicksals, er spürte es körperhaft und krümmte sich unter den Schlägen.

»Rosa.«, keuchte er und preßte die Fäuste gegen die Lippen. »Rosa.«

Ihre schmale Gestalt trat in den Mondschein . jetzt lief sie, ihre langen Haare wehten hinter ihr her. Wie eine Elfe, die auf einer Wiese tanzt, sah es vom Wald her aus. Wie ein Berggeist, ein Kobold. Da warf Jossip die Hände vor das Gesicht und weinte.