Elena war in völliger Auflösung, als sie vor Osik stand und die Fäuste ballte. »Ist es wahr, Vater?« schrie sie. »Man hat auf Ralf geschossen?«
»Wer ist Ralf?« Stanis Osik zog die Augenbrauen hoch. Diese neue Situation hatte er nicht berücksichtigt, sie überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Sie überfiel ihn mit einer Plötzlichkeit, die ihn ei-nen Augenblick hilflos machte.
»Meerholdt!« Elena Osik sank in den Korbsessel und riß das Kleid über dem Hals auf, als drücke es ihr die Luft ab. »Es ist also wahr!«
»Man hat nicht geschossen - man hat einen Stein auf ihn geworfen!«
»Ob geschossen oder Stein - man hat ihn töten wollen!« Sie sprang wieder aus dem Sessel auf. Mit einem Satz war sie bei Osik und faßte ihn an der Brust. »Du rufst Ralf sofort zurück«, schrie sie wild. »Du läßt ihn nach Zagreb kommen! Ein anderer übernimmt die Bauleitung!« Plötzlich sank ihr Kopf an seine Schulter, es war, als sei ihre Glut ausgebrannt, als falle sie zusammen wie ein ausgebluteter Körper. »Ich liebe ihn, Vater . ich liebe ihn ja so sehr«, stammelte sie.
Stanis Osik schob die Unterlippe vor. Er sah aus wie ein kugelköpfiger Fisch.
»Ich war ein Rindvieh, dich nach Foca zu schicken«, antwortete er grob. »Bist du eine Katze, die jedem Kater jaulend nachläuft? Was soll der Unsinn: Ich liebe ihn?! Jetzt bin ich fast froh, daß er in Za-bari ist und zweitausend Meter hohe Felsen zwischen dir und ihm liegen!«
»Sie sind kein Hindernis! Ich komme auch über sie zu Ralf!« Ihre Augen sprühten Wut und Entschlossenheit. »Du rufst ihn nicht zurück?« Und da Osik sinnend schwieg, stampfte sie mit den Füßen auf. »Gut! Dann gehe ich zu ihm!«
»Verrückt! Du gehst nicht!« schrie Osik. »Ich habe dich erzogen wie eine Prinzessin.«
»Das war ein Fehler«, unterbrach sie ihn schroff.
»Ich habe dich in der Schweiz erziehen lassen, du hattest ein Reitpferd, die schönsten Kleider, den besten Schmuck und die teuersten Pelze, du erbst einmal eine Villa und ein Bankkonto von heute fast einer Million Dinare.«
»Aber ich erbe kein Herz! Ich will nicht der Sklave deines Reichtums werden und ein juwelenbehängter Schatz, den man nur hinter Glas bewundern darf!Ich liebe Ralf, und niemand, niemand,
niemand hält mich ab, zu ihm zu gehen!«
»Ich!« Stanis Osik ging auf der Terrasse hin und her und schnaufte. »Ich werde dich nach Rom schicken!«
»Und ich werde nicht fahren!« antwortete sie trotzig.
»Willst du einen Skandal? Ich werde dich bis an den Zug prügeln!«
Elena sah ihren Vater aus haßerfüllten Augen an. Sie kannte ihn und seinen Zorn, der alle Tünche gesellschaftlicher Bildung und Beherrschung überschrie. Die Gasse, aus der Stanis Osik emporstieg in die Sonne des Geldes, brach in solchen Stunden wieder durch.
Damals, vor 23 Jahren, war er ein arbeitsscheuer Kerl in Karlo-vac gewesen, bis sich seine Spuren verloren und er eines Tages auftauchte als Besitzer von zwei Betonmaschinen und einer eigenen Arbeitskolonne. Er baute einige Siedlungen, er bestach die verantwortlichen Inspekteure der Ministerien und erhielt Staatsaufträge und große Bauten, die ihn bald zu einem der wichtigsten Männer des jugoslawischen Bauplanes werden ließen. Seit diesen Tagen stand er mit allen maßgebenden Staatsbeamten auf freundschaftlichem Fuße und führte in Zagreb ein großes Haus.
Das Wertvollste dieses Hauses, der Glanzpunkt seines dunklen Lebens, die Erfüllung aller seiner Träume war Elena. An sie hängte er alles, was in seiner Jugend die großen Sehnsüchte seines Lebens waren, das Unerreichbare, das er erreichte und an seiner Tochter wie in einem Spiegel betrachtete.
Sein Zorn war echt. Elena empfand die Gefahr, die von ihm ausging, und schwieg. Mit verzerrtem Gesicht wandte sie sich ab und rannte auf ihr Zimmer. Auf dem Weg durch die Halle und die Treppe hinauf zerschlug sie einige Vasen und schloß sich dann ein, als sie Osik brüllend ihr nachrennen hörte.
»Ich werde sie an den Haaren nach Rom schleifen!!« schrie er. »Diese läufige Katze, diese verfluchte!« Er schellte dem Hausmädchen -es kam nicht. Er brüllte nach dem Chauffeur - er war nicht zu finden. Sie waren aus dem Haus geflüchtet, als Osik zu schreien begann. In dem weiten Garten, der hinunter bis zu den flachen Ufern der Sava reichte, hielten sie sich verborgen und warteten über eine
Stunde, ehe sie zurück ins Haus schlichen.
So gingen sechs Monate dahin.
Ein halbes Jahr, in dem der Bau von Zabari in den Himmel wuchs. Sechs Monate, in denen Elena in Zagreb blieb und nur durch das Zimmermädchen heimliche Briefe zu Meerholdt schmuggeln konnte, in denen sie ihre Klage niederschrie und ihn anflehte, sie zu befreien aus dem goldenen Gefängnis von Zagreb.
Seine Antworten erreichten sie nicht. Sie wußte nicht, ob er überhaupt antwortete oder ihre Briefe bekommen hatte. Von Stanis Osik erfuhr sie nichts. Er sprach mit ihr nicht mehr über den Bau von Zabari, er führte sie in die Oper oder in ein Konzert, sie besuchten in Belgrad einen Winterball der Regierung, und Osik gab sich alle Mühe, Elena in die diplomatischen Kreise einzuführen und die jungen Gesandtschaftsräte für sie zu interessieren. Eine Geschäftsreise entführte sie nach Wien ... in der Wiener Burg sah sie die Größen der Schauspielkunst und hörte in der Oper die herrlichen Stimmen von Dermota und Welitsch.
Auch von Wien aus schrieb sie einen Brief an Meerholdt.
»Mein Liebster«, schrieb sie, »was ist Wien, was ist die Welt ohne dich? Sechs Monate haben wir uns nicht gesehen, nicht gesprochen -nicht eine einzige Zeile von dir liegt auf meinem Herzen und tröstet mich, wenn ich an dich denke. Ich weiß, daß deine Briefe mich nie erreichen, und deshalb sollst du wissen, daß jeder Tag, den man mich von dir trennt, mich stärker werden läßt für jenen Augenblick, in dem ich dich wieder in meinen Armen halten kann und unsere Welt nur noch besteht aus dem gemeinsamen Schlag unserer Herzen.«
In Zabari war der Winter längst hereingestürzt. Er war nicht gekommen wie in anderen Breiten unserer Erde, langsam, mit kalten Nächten und Frost, mit rieselndem Schnee und einem fahlen Himmel, dessen Wolken schwer zur Erde hingen. Er war wie eine Naturkatastrophe niedergebrochen, als sei er von den Felsen gestürzt wie eine alles vernichtende Lawine. Nach einem hellen Himmel erbebte der Wald in der Nacht unter einem heulenden Sturm . die Stämme brachen ächzend unter der Gewalt der Winde, die Tiere flüchteten aus dem Wald und suchten Schutz zwischen den Schluchten. Staub und Steine fegte der Sturm über das Tal, die Bauern saßen auf den Dächern ihrer Hütten und beschwerten sie mit dicken Felsbrocken, an den Baustellen kämpften die Arbeiter verzweifelt um die schwankenden Holzverschalungen, die im rasenden Wind schwankten wie Korn unter der Sense.
Gegen Morgen brach eine der Baracken zusammen. Ein Windstoß hatte sie von den Verankerungen gerissen. Die Wände knickten ein wie ein Kartenhaus; Betten, Anzüge, Wäsche und Decken wirbelten durch das Lager.
Zum erstenmal seit sieben Monaten gellten die Einsatzsirenen und Katastrophenhörner. Tausend Arbeiter und Soldaten, Bauern und Frauen kämpften gegen den Sturm um die Erhaltung des Werkes . mit Stahltrossen wurden die Wandverschalungen zusammengehalten, fahrbare Pfeiler stützten die Gußbrücken, ein Kommando der Italiener rückte in den Wald und riß und sprengte mitten im Sturm die angeknickten Bäume um, deren mächtige Stämme bei einem Fall die halbfertige Betonmauer verletzen konnten. Bonelli rannte um seine Kantine herum und schrie nach Hilfskräften. »Meine Kantine fliegt weg!« jammerte er. »Hilfe! Hilfe! Hier hin!« Vier Soldaten blieben stehen und sahen ihn an.
»Los!« schrie einer. »Zieh die Jacke an! Zum Damm! Sofort!«
»Meine Kantine!« schrie Bonelli zurück.
»Deine Kantine kann uns.« Einer trat ihn in den Hintern, und Bonelli sauste durch die Dunkelheit dem Tal entgegen. Ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte er ein Drahtseil zwischen den Händen und war dabei, einen Baumstamm den Hang hinabzuziehen. Raupenschlepper ratterten an ihm vorbei, Planierraupen schoben Erdwälle vor sich her, um einen Schutzwall gegen die den Berg hinabrollenden Stämme zu schaffen.