Elena, die jetzt in Wien die Kissen umarmte und träumte, es sei Ralf Meerholdt.
Der Schnee und der plötzliche Kälteeinbruch brachten es mit sich, daß der Konsum Bonellis an scharfen Schnäpsen und Grog rapide zunahm. Mit den scharfen Getränken aber kam auch ein schärferer Ton in die tausend Männer, die in die Einsamkeit verbannt waren und nur alle vier Wochen für zwei Tage nach Foca, Niksic oder Plewlja Urlaub bekamen. Tausend Männer in einem engen Tal inmitten von hohen Felsen, in einem grandiosen Gefängnis der Natur, in einem Dorf von hundert Seelen mit dreißig jungen Mädchen. Ralf Meerholdt sah das Problem von der realen Seite und ließ den Hauptmann der Gebirgsjäger zu sich kommen.
»Es muß etwas geschehen, Herr Hauptmann«, stellte er fest und legte dem Offizier eine Liste auf den Tisch. »Innerhalb der letzten zwei Wochen haben wir elf Schlägereien, zwei Messerstechereien und eine Arbeitsverweigerung von einer ganzen Kolonne gehabt. 63 Mann, Herr Hauptmann! Die gesamte Betonmischerei an Sohle 3! Ich habe sie mir vorgenommen. Ihre Antworten waren alarmierend: Wir haben zu fressen und zu saufen, sagten sie. Wir haben ein Bett und wir haben Geld ... aber wir haben keine Weiber! Wir pfeifen auf die tausend Dinare, die wir verdienen, und auf das schönste Fressen, wenn keine Weiber hier sind!« Ralf Meerholdt hob die Schultern. »Was soll ich tun, Herr Hauptmann?«
Der Offizier nahm die Liste und las sie durch. »Ich könnte Ihnen mit einem einfachen Rat dienen, aber er ist undurchführbar. Sie können den Leuten nur mehr Urlaub geben . nicht alle vier Wochen, sondern jede zweite Woche einen Tag und eine Nacht.«
»Auch in Niksic hat es Schlägereien gegeben. Natürlich um Mädchen. Bonelli, dessen Katja ich nach Foca geschickt habe, hat einen Italiener halb lahm geschlagen, weil ein Fahrer ihm berichtete, er habe im Hauptmagazin Katja in den Hintern gekniffen!«
Meerholdt schlug mit der Faust auf den Tisch. »Mein Gott - das ist doch unmöglich! Wir haben der Natur standgehalten, wir haben dem Boden das Werk abgetrotzt, wir haben die Herzen der Bergbauern besiegt - sollen wir selbst, wir, die Erfolgreichen, an uns zugrunde gehen, an unserer menschlichen Unzulänglichkeit, an unseren Leidenschaften?!«
»Es scheint so, Herr Meerholdt.«
»Ich kann es nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf und ging in dem großen Barackenraum hin und her. »Ich habe Sie zu mir gebeten, Herr Hauptmann, um mit Ihnen eine Aktion gegen diesen -sagen wir es ehrlich - sexuellen Wahn zu besprechen. Ich bin nicht gewillt, und wenn ich sie mit der Waffe an die Arbeit treiben muß, mich der Zügellosigkeit dieser Leute zu beugen! Ich werde den Schnaps verbieten!«
»Dann wird man ihn aus Foca hereinschmuggeln.«
»Ich werde jeden Schmuggler und jeden Käufer mit Geldentzug bestrafen!«
Der Offizier hob die Schultern. »Man wird Sie eines Tages erschlagen in einem Winkel Ihres grandiosen Baues finden. Ein Unglücksfall, wird es heißen. Er ist den Hang hinabgestürzt. Herr Meer-holdt, Sie kennen doch die Mentalität dieser Männer! Sie arbeiten doch nicht für das Geld ... das Geld ist nur eine Zwischenstufe für die Güter, die sie erarbeiten wollen. Und was sind diese Güter? Fressen, saufen und Weiber! Der primitivste Ausdruck des Lebenswillens, die Erfüllung instinktmäßiger Triebe. Über diese drei Dinge hinaus kommen nur wenige ... aber diese Idealisten - wir wollen sie ruhig so nennen - sind nicht die Masse Ihrer Arbeiter! Sie haben ihnen Essen und Trinken gegeben . aber die letzte Stufe ihres Lebensstandards beginnt erst nach jeweils vier Wochen in drei Städten. Es sind die gleichen ungewaschenen und geilen Mädchen, die einen Tag vorher der Kamerad des Nebenbettes ausführte . glauben Sie, daß dies auf die Dauer gut geht?! Irgendwie verletzt Ihr Bau das Naturgesetz, das sogar ein Tier respektiert!«
Ralf Meerholdt blieb stehen und streckte die Hände vor. »Wir haben im Krieg auch wochen- und monatelang ohne eine Frau gelebt! Es muß einfach gehen!«
»Mußte es wirklich?« Der Hauptmann lächelte entschuldigend. »Wie war es in der Etappe? Die Mädchen der besetzten Dörfer, die weiblichen Militärangehörigen, die Mädchen von der Bahn, der Post, den Lazaretten.«
»Es lagen Monate dazwischen! Im Bunker oder in der Stellung kannten wir nur eine Sorge: Überleben! Wir dachten an die Frauen - aber wir entbehrten sie nicht, weil unsere Umgebung zu schrecklich war, um daran zu denken.«
»Das ist es!« Der Hauptmann trat an das Fenster und blickte hinaus auf den Hof. Die Mittagsschicht strömte in die Kantine, die Blechteller in der Hand. »Sehen Sie einmal aus dem Fenster, Herr Meer-holdt. Da gehen die Jungen zum Essen! Was gibt es? Nicht Kapu-sta mit Wasser, nicht Dörrgemüse oder Trockenfisch, sondern Paprikagulasch mit Klößen! Für alle tausend Mann! Gepfeffertes Fleisch! Und morgen soll es Nudeln geben mit Bouillon. Sehr fetthaltig, sehr nahrhaft. Herr Meerholdt - die Leute platzen aus dem Anzug! Trotz der Arbeit! Trotz Kälte, trotz Schnee, trotz des Schweißes, den sie an der Staumauer vergießen!«
»Dann werde ich das Essen reduzieren.« Meerholdt sah über die Schulter hinweg auf die Schlange, die sich in die große Eßbaracke drängelte. »Man hat mir gesagt, die Italiener wollten aus Niksic mit Transportkisten heimlich Frauen ins Lager holen und verstecken. Das würde die ersten Morde bedeuten!«
Der Offizier nickte. »Darin bin ich mit Ihnen einer Meinung. Mit den Italienern fängt es an und mit einer Schlacht um die Mädchen hört es auf.«
»Was soll ich also tun?« sagte Meerholdt und hob die Arme.
Die Frage blieb offen. Doch die Sorge wuchs und wuchs, je stärker der Schnee fiel und das Tal fast von der Außenwelt abschnitt. Nur mit Kettenfahrzeugen konnte die einzige Straße nach Zabari befahren werden, es war wie der Durchbruch in eine verlorene Welt. Jede Nacht türmten sich die Schneeberge von neuem auf; sie mußten am Morgen mit schweren Räumern zur Seite in die Schluchten gedrückt werden.
In diesen Tagen gab es die ersten Toten. Ein Raupenschlepper kam auf der abschüssigen Straße ins Rutschen und stürzte vierzig Meter tief in eine Schlucht. Die vier Männer, die auf dem Weg saßen, fand man erst nach drei Tagen. Wie Granaten hatten sie sich in den tiefen Schnee gebohrt. Sie wurden am Fuße des Bergwaldes begraben. Bedrückt standen die tausend Männer um die offenen Gräber, als Ralf Meerholdt die letzten Worte des Abschieds sprach. »Wir alle stehen an einem Abgrund«, sagte er doppelsinnig. »Wir müs-sen unsere Herzen fest in die Hand nehmen, um unseren Damm nicht mit Blut zu bauen.«
Der Tod der vier Kameraden brachte für einige Tage Stille in die tausend Mann. Pietro Bonelli hatte seit einer Woche keine Nachricht von Katja bekommen und haßte die Welt und alles, was auf ihr herumlief. Er hatte die Transportkolonnen ausgefragt - sie hatten Katja Dobor nicht in Foca gesehen. Bonelli raufte sich die Haare und jammerte. Sie ist mit einem anderen Mann fortgegangen, simulierte er. Sie ist bestimmt weg, denn wo sollte sie hin in Foca? Oh, diese Weiber! Diese verdammten Weiber! Dieses Unglück unserer Erde! Er setzte sich hinter eine Flasche Chianti und starrte traurig in den rieselnden Schnee und auf die dunklen Felsen. Am Abend war er sinnlos betrunken und wurde von zwei Küchengehilfen ins Bett geworfen.
Am Bau wurde von Tag zu Tag weniger gearbeitet. Der Frost in den Nächten verhinderte alle Betongüsse . statt dessen wurden Hindernisse gesprengt, Felsen, die im Wege standen. Das Bersten und Krachen des Gesteins zerriß die weiße Stille. In den Werkstätten wurden die Fahrzeuge und Maschinen überholt. Motorsägen schnitten die eisenharten Stämme zu Rund- und Stützhölzern und zu Brennholz für die großen, runden, eisernen Barackenöfen. In der Schmiede entstanden neuartige Schneeräumer, die jedem Wagen vorgesetzt wurden, der über den steilen Weg hinaus in die Welt fuhr. So erreichte man, daß die Straße einen großen Teil der Tage schneefrei und befahrbar gehalten wurde und weitere Unglücke nicht stattfanden.