Aus Budapest war ein Brief gekommen. Elena war zu Besuch bei einer Tante. Stanis Osik hatte sie dort zurückgelassen und saß wieder in Zagreb in seiner prunkvollen Villa, von der aus er seine Staatsbauten leitete. Er hatte die Klagen Meerholdts genau mit Belgrad besprochen und reduzierte zunächst den Alkoholkonsum um die Hälfte. Dem Essen mußte ab sofort ein bestimmter Prozentsatz Speisesoda zugesetzt werden - alle Randalierenden wurden unter Bewachung von Soldaten nach Foca und von dort nach Sarajewo gebracht, wo sie von einem Schnellrichter abgeurteilt wurden.
»Wer durch Arbeitsniederlegung oder Krawalle den Bau gefährdet, ist ein Saboteur!« ließ Osik als ein Plakat an jeder Baracke anbringen. »Saboteure aber werden in der Volksdemokratischen Republik mit dem Tode bestraft!«
Verbissen, mit finsteren Gesichtern standen die Arbeiter zusammengerottet um die Plakate und lasen sie. Wird zum Tode verurteilt . dieser Satz war eine massive Drohung. Man wußte, daß Belgrad keine Gnade kannte, daß es keine leere Redensart war, sondern blutige Wahrheit. Die ersten sechs Arbeiter, die um ein Mädchen eine Schlägerei begonnen hatten, waren in Sarajewo bereits zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Zehn Jahre . das war schlimmer als der Tod! Das bedeutete zehn Jahre Arbeit unter Fußtritten und Schlägen, in eisigen Winterstürmen und glühenden Sommern, gefüttert nur mit einer dünnen Wassersuppe und klitschigem Maisbrot, das im Magen aufquoll und wie ein Stein auf die Gedärme drückte. Zehn Jahre Arbeit im Steinbruch, im Bergwerk, an den Küstenfelsen, in Marmorbrüchen ... zehn Jahre ein Tier unter Tieren.
Die Arbeiter gingen stumm auseinander. Am Morgen waren Osiks Plakate zwar von unbekannter Hand von den Wänden gerissen, aber es blieb still im Lager. Die tausend Mann duckten sich, die Leidenschaften wurden in der Stille ausgetragen . man erfuhr nicht mehr, wenn sich zwei schlugen oder ein Messer locker saß ... die anderen in der Baracke deckten sie, und die Verletzten bissen die Zähne zusammen, gingen zur Arbeit und vollendeten ihr Tagessoll, als sei nichts geschehen.
Der einzige, der in diesen Wochen wieder Leben in das Grau des Winters brachte, war Pietro Bonelli. Er hatte von einem Fahrer des Nachschubes die Nachricht erhalten, daß Katja Dobor in Sarajewo im Krankenhaus lag.
»Mamma mia!« schrie Bonelli. »Mein Täubchen ist krank?! Mein armes Vögelchen.« Er rannte zu Ralf Meerholdt und bat um Urlaub wegen >Regelung dringender Familienangelegenheiten^ »Sie ist todkrank, meine Katja«, jammerte er. »Sie liegt im Sterben! Noch einen letzten Blick will sie auf ihren Pietro werfen! Haben Sie Gnade, Padrone ... lassen Sie mich für drei Tage nach Sarajewo.«
Ralf Meerholdt rief im Krankenhaus an und erkundigte sich. Der Arzt, den er sprach, lachte laut, als er von den Sorgen Bonellis hörte. »Ihr fehlt gar nichts! Sie kam eines Tages zu uns und fragte, ob sie bei uns arbeiten könne. Sie wollte mehr Geld verdienen, denn sie habe einen Bräutigam, und wenn der Winter vorbei sei, wolle sie zurück in ihr Dorf und ihm zeigen, was sie alles in den Monaten verdient habe! Ich fand das sehr vernünftig und behielt sie hier. Sie arbeitet auf Station und ist sehr fleißig. Ein nettes Mädchen, Herr Meerholdt. Wollen Sie sie wieder haben?«
»Aber nein. Wenn es so ist.«
»Uns fehlt Personal. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Katja hier bliebe.«
»Von mir aus.« Meerholdt sah zu Bonelli hinüber, der in dem Sessel kauerte und vor Aufregung schwitzte. »Bestellen Sie ihr einen schönen Gruß von uns, Herr Doktor.« Er legte den Hörer auf und wandte sich an Bonelli. »Da haben wir's«, meinte er geheimnisvoll.
Bonelli erbleichte. Er sank in sich zusammen und bebte.
»Ist . ist sie . sehr krank?« stotterte er. »Lebt sie noch?!«
Meerholdt nickte ernst. »Was hast du mit ihr gemacht?!« fragte er streng.
Bonelli schnellte aus seinem Sessel empor. »Ich?« jammerte er. »Ich habe sie geküßt.«
»Und?«
»Und wieder geküßt.«
»Und?«
»Dann hat sie mein weiches Bett bewundert. Padrone - so etwas kannte sie nicht! Sie staunte so süß.«
»Und?«
Bonelli schluckte. »Ja ... und. Naja ... und.« Er hob die Schultern. »Ich will sie ja heiraten, Padrone. Ich habe es ihr vorher schwören müssen.«
Meerholdt lächelte. »Jetzt haben wir die Bescherung.«, meinte er
sarkastisch.
Bonelli war einen Augenblick starr, dann sprang er wie ein Gummiball in die Höhe und schrie. Er warf die Arme in die Luft, tanzte durch das Zimmer und verdrehte die Augen.
»Ein Bambino!« brüllte er. »Ein Bambino! Ein Bambino!« Er rannte aus dem Zimmer, über die Lagergasse und tanzte in seiner Kantine. Vergeblich versuchte Meerholdt, ihn zurückzurufen, ihm den Irrtum klarzumachen . vergeblich. Bonelli hüpfte herum und war für die Umwelt zunächst nicht mehr vorhanden.
Am Abend gab er ein rauschendes Spaghettiessen mit Chiantiwein, Slibowitz und Mandolinenmusik. Die Italiener, unter den Jugoslawen sowieso in der Minderzahl, feierten dieses Ereignis wie ein Volksfest. Aus buntem Papier hatten sie Lampions gebastelt und kreuz und quer durch die Kantine gespannt. Als die Mandolinen aufklangen und ein Quartett neapolitanische Lieder sang, kamen Bonelli Tränen in die Augen.
»Freunde«, sagte er weinend. »Wenn das meine kleine Katja sehen könnte.«
Die Bauern standen glotzend an den Fenstern und starrten in den festlichen Saal. Die Mädchen von Zabari tanzten und kamen sich vor wie in einem Märchen. In der Nacht kam es wegen der Mädchen zu schweren Schlägereien zwischen den Italienern und einigen Zabarianern ... die Verletzten wurden in den Baracken verborgen, Freunde machten ihre Schichten mit. Keine Ausfälle, hieß es. Keine Sabotage! Stanis Osik stellt uns an die Wand, wenn ein einziger der Mädchen wegen ausfällt!
Am zweiten Tag nach Pietro Bonellis Vaterfeier klärte sich der Irrtum auf. Bonelli versank in den Boden, er zertrümmerte einen Tisch und einen Stuhl, warf leere Flaschen auf jeden, der ihm zurief: »Wie geht es dem Bambino?« und ließ sich vier Tage nicht mehr in der Kantine blicken.
Das Lager zehrte noch fünfWochen von diesem Ereignis. In Zabari wurde es ein geflügeltes Wort: »Geh nach Sarajewo zu deinem Bambino!« Wenn Bonelli es hörte, wurde er weiß im Gesicht und
blau in den Lippen.
So ging der Winter über Zabari hin ... wochenlang versank es in einer weißen Wüste. Schnee ... Schnee, nichts als Schnee. Die Wölfe umstrichen das Lager . die Soldaten schossen sieben Stück und ließen sie zur Abschreckung vor den Baracken liegen. Am nächsten Morgen waren sie aufgefressen ... die abgenagten Knochen lagen im Schnee. Und in der Nacht heulten die anderen Wölfe und jagten die Hunde, die nicht schnell genug Schutz bei den Hütten suchten.
Drei . vier Monate . kurze Tage und lange Nächte . ein ewig trüber, grauer Himmel und nachts ein Frost, daß die Stämme der Bäume barsten und das Vieh in den Ställen schrie.
Mitte März riß der Himmel auf, ein blauer Fleck stand über Zabari, bestaunt von den Bauern und den tausend Arbeitern. Mit dem blauen Flecken kam ein warmer Wind . er wehte vom Meer her und suchte sich seinen Weg durch die einsamen Felsen. Mit ihm kam auch die Schneeschmelze nach Zabari . es war, als löse sich die Ordnung der Welt auf und ertränke in rinnenden Bächen, reißenden Bergflüssen und wasserbrodelnden Tälern.
Der Kampf gegen das Wasser begann. Es warf sich gegen den halbfertigen Damm, riß an den Verschalungen, unterspülte die Betonmauern.
Rettet den Damm! Die Natur rächt sich an uns!
Als die ersten Verschalungen brachen, stand Rosa neben dem starren Ralf Meerholdt auf dem Rand des Tales und weinte.
In diesen Monaten des Winters war Jossip nicht einmal hinunter nach Zabari gekommen. Er lebte verborgen in seiner aus dicken Stämmen gezimmerten Hütte, schlief auf dem Ofen und lebte von Hammelfleisch, Milch, Käse, Butter und einem Brot, das er sich aus Mehl und zerriebenen Wurzeln buk. Seine Schafherde lag in einem mit Stroh gefüllten Schober und wartete den Schneefall ab. Auch als die Alarmsirenen von Zabari heraufgellten und die tausend Arbeiter und Bauern gegen den Sturm kämpften, blieb er auf seinen Felsen. Er stieg nur, wenn der Schnee etwas nachließ, auf sein Plateau und blickte hinunter auf die weiße Wüste zu seinen Füßen, aus der hier und da eine dünne Rauchfahne emporstieg. Ein Haus, dachte er dann. Das Haus von Dobor. Und dort die Rauchfahne, das ist Bossik. Und dort Semla, Korvicz, Simfecz und Slatina. Direkt unter dem Felsen, das ist Suhaja. Das ist das Feuer, um das jetzt Rosa sitzt und sich wärmt. Vielleicht sitzt sie auch nicht um die offene Flamme, sondern lebt mit dem Fremden in der Baracke dort hinten am Tal. Dann wurde sein Gesicht hart, und er ging zurück zu seiner Hütte und grübelte.