Hinter sich hörte er leise Stimmen. Fedor sprach mit einigen Frauen . Ralf hörte es am Klang der Stimmen. Dann legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Willst du essen, Herr?« fragte Fedor.
Ralf schüttelte müde den Kopf. »Nein, danke, Fedor. Ich bin müde, so müde. Ich möchte schlafen. Nichts als schlafen.«
»Ich kann dir nur ein Graslager geben, Herr. Ein Graslager mit einigen Fellen darüber.«
»Ich werde darin besser schlafen als in jeder Daunendecke. Nur schlafen will ich.«
Er drehte sich herum. Fedor stand hinter ihm, in der Hand hielt er einen Holzbecher mit Milch und einen Fladen Weizenbrot. Er reichte es Ralf hin und nickte ihm ernst zu. »Willkommen als mein Gast«, sagte er langsam. »Wenn du diese Milch trinkst und das Brot ißt, bist du mir wie ein Bruder, solange du unter meinem Dache lebst. Es wird dir nichts geschehen, was nicht auch mir geschieht.«
Müde nahm Ralf den Becher Milch und trank ihn in einem Zug. Dann nahm er den Fladen und biß hinein. Aus der dunklen Ecke schälte sich eine kleine, rundliche Frauengestalt in langen Kleidern. Sie kam halb gebückt heran und begrüßte Ralf mit einer Verbeugung. Dabei legte sie nach orientalischer Sitte die Hand an die Stirn.
»Marina, mein Weib.« Fedor winkte. »Sie wird dir dein Lager zeigen, Herr.«
Ralf folgte Marina in eine Kammer, die neben dem großen Raum lag. Dort war auf dem Boden getrocknetes Gras hoch aufgeschichtet.
Einige dickwollige Schaffelle beulten sich über dem Gras, eine handgewebte Decke lag aufgeschlagen daneben.
Aufseufzend ließ sich Ralf auf das Lager sinken. Er warf die Decke über sich und hörte schon nicht mehr, daß Marina die Tür schloß. Kaum, daß er lag, fiel er in einen bleiernen Schlaf und lag wie ein Toter auf dem weichen Gras.
Als Ralf Meerholdt am Morgen aus seiner Kammer in den großen Raum trat, waren Fedor und Marina schon in den Wald gegangen und schlugen Stämme für das Winterfeuer. Auf der Wiese hinter der Hütte, zu den Felsen hin, weideten zwei Kühe . die Dorfschafherde war unterwegs zu den Weideplätzen oberhalb des Dorfes.
Ralf trat vor die Hütte und überblickte erstaunt das kleine Bergdorf. Die Ziehbrunnen, die vor jedem Haus standen, verrieten ihm, daß hier über Wassermangel nicht zu klagen war, und auch die Wiesen waren saftiger, als er es sich gedacht hatte. Das Vieh sah gut aus, wohlgenährt, gepflegt. Außer den Brunnen lief entlang der Dorfstraße eine große Viehtränke - fließendes Wasser, das man durch halbe, ausgehöhlte Baumstämme leitete und das weiter hinten, am Ende des Dorfes, in einer kleinen Schlucht versickerte.
Interessiert trat Ralf an den Ziehbrunnen heran und beugte sich über den gemauerten Rand. Das klare Bergwasser stand etwa einen Meter unterhalb des Randes. Er nahm den hölzernen Eimer und ließ ihn an der Hanfschnur hinab, zog ihn gefüllt wieder empor und tauchte seinen Kopf hinein. Das Wasser war kalt, kristallklar und ungewöhnlich weich. Als er den Kopf wieder aus dem Eimer zog und sich wie ein nasser Hund schüttelte, hörte er hinter sich ein helles Lachen. Er ließ den Eimer fallen und drehte sich schnell herum. Ein Mädchen stand am Brunnen, und ihr Gesicht war eine einzige Fröhlichkeit.
Verlegen fuhr sich Ralf durch die wirren, nassen Haare und verbeugte sich leicht. »Du hast recht, wenn du lachst«, sagte er. »Ich muß aussehen wie eine nasse Katze.«
Er holte ein großes Taschentuch aus der Hose und trocknete sein Gesicht und die Hände ab. Das Mädchen hatte währenddessen den hingeworfenen Eimer genommen und wieder auf den Brunnenrand gestellt.
Sie war mittelgroß, hatte langes, lockiges schwarzes Haar, und ihr schmales Gesicht war braun von der Sonne. Ihre Augen, schwarz wie ihr Haar, hatten den tanzenden Glanz der Jugend, ihr schlanker Körper mit den vollen Brüsten wirkte in dem geflickten und aus rohem Leinen gefertigten Kleid wie eine Demonstration des Schönen, das keine Armut besiegen kann und das durchbricht durch Einsamkeit und Roheit der Natur.
Ralf strich sich die Haare glatt und setzte sich auf den Brunnenrand. »Wer bist du?« fragte er.
»Rosa«, sagte sie und lächelte.
»Rosa. Ein schöner Name. Ein fast zu schöner Name für ein Mädchen, das inmitten rauher Felsen aufwächst. Du wohnst in Zaba-ri?«
Sie nickte. »Und du wohnst bei uns«, sagte sie.
»Ich?« Ralf fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. »Du bist die Tochter Fedors?«
»Ich bin Rosa Suhaja.« Sie trat an Ralf heran und nahm den Eimer. »Du warst gestern sehr müde . zu müde, um mich zu sehen. Ich saß in der Ecke neben dem Feuer und webte. Aber du warst so müde, Herr.«
Sie beugte sich über den Brunnenrand und ließ den Eimer ins Wasser fallen. Als sie ihn emporziehen wollte, hielt Ralf ihren Arm fest. Erstaunt fuhr sie herum.
»Laß mich das machen, Rosa«, sagte Ralf und zog den Eimer empor. »Er ist zu schwer für dich.«
»Ich mache es am Tage hundertmal!« lachte sie. Aber sie ließ Ralf den Eimer bis zum Haus tragen, wo sie auf eine hölzerne Wanne zeigte. Ralf schüttete das Wasser hinein und setzte sich dann auf die Bank vor der Tür. Er sah zu, wie Rosa ein Schaffell wusch und dann begann, mit einem Schabemesser über einem Holzklotz die noch an der Innenseite befindlichen Sehnenstückchen auszuschälen.
Sie sprachen kein Wort mehr, aber aus den Augenwinkeln sahen sie sich an. Rosas Kopf war tief über das Fell gebeugt, ihre langen schwarzen Haare fielen über ihr halbes Gesicht . unter diesem Vorhang hervor betrachtete sie Ralf und schabte oft an Stellen des Felles, an denen kein Stück Sehne zu sehen war.
Ralf blickte an sich herunter. Seine Hose war kraus und zerlegen, sein Hemd zerknittert, sein Rock faltig. Die Schuhe hatten eine dicke Staubschicht, unter den Fingernägeln waren breite schwarze Ränder.
»Ich sehe aus wie ein Vagabund, mein Mädchen«, sagte er auf deutsch. »Wie alt bist du?« fragte er auf serbisch.
»Neunzehn Jahre, Herr.«
»Neunzehn. Aber warum nennst du mich immer >Herr<?«
»Bist du kein Herr?« Sie legte das Fell hin und blickte auf. Ihre Augen waren groß. »Du kommst doch von jenseits der Berge, nicht wahr? Du kennst doch die große Welt! Die weite Welt, das Meer, die großen Weiden.« Sie legte die Hände in den Schoß und sah hinüber zu den Felsen. Sehnsucht lag in ihrem Blick und eine Traurigkeit, die ihr Gesicht wie ein Schleier überzog. »Sie muß schön sein, diese ferne Welt, nicht wahr, Herr?«
»Sie ist schön, Rosa . und gefährlich.«
»Gefährlich, Herr?« Sie schüttelte den Kopf.
»Doch Rosa. Die Menschen sind nicht gut.«
»Die Menschen -« Sie hob abwehrend die Hand. »Wo die Welt schön ist, müssen auch die Menschen schön sein.«
Ralf lächelte. Er nahm Rosas Hand, er fühlte, wie sie leise zitterte, als er sie ergriff.
»Du bist ein Beispiel dafür, daß diese fromme Theorie nicht stimmt. Du könntest in der Welt deiner Sehnsucht viel erreichen, aber du würdest an ihrer Gier zerbrechen. Deshalb blühst du hier im verborgenen, und der Ratschluß Gottes ist weise, daß er zwischen dir und der Welt eine Kette zweitausend Meter hoher Berge gelegt hat.«
Rosa lächelte schwach. »Ich habe nichts verstanden«, sagte sie leise. Sie entzog ihre Hand seinem Griff und nahm das Schaffell wieder auf. »Erzählst du mir heute abend etwas von der Welt, Herr?«
»Ja. Aber nur, wenn du mich nicht mehr >Herr< nennst. Sag Ralf, Rosa.«
»Ralf?« Sie lachte laut und bog sich zurück. Ihre Brüste spannten das Kleid. Ralf sah, daß sie außer dem Leinenkleid nichts weiter auf dem Körper trug. In seinen Schläfen spürte er plötzlich ein Klopfen. Dummheit, dachte er. Verrückte Dummheit! Ein montenegrinisches Bauernmädchen! Ich werde den Kopf noch einmal in das kalte Wasser stecken!